Was ist Kinderwürde?
Was uns am Herzen liegt
Kinder verdienen es, gewürdigt zu werden.
Das heißt, wir sollten ihnen zusehen und zuhören, nicht allem zustimmen, aber sie ernst nehmen und nicht übersehen, übertönen, überhören.
Wir sollten die Kinder wahrnehmen, wie sie sind. Nicht, wie sie sein sollen oder „müssen“, nicht an irgendwelchen Idealbildern messen.
Jedes Kind ist anders, ist einzigartig. Deswegen werden wir auf dieser Plattform keine „Rezepte“ verbreiten, sondern Anregungen und Hinweise geben, die Sie umsetzen können, so wie es den jeweiligen Kindern und auch Ihnen entspricht.
Diese Plattform wendet sich an alle, die sich für die Würde der Kinder engagieren. Ganz gleich, ob Sie Eltern sind oder Erzieher*innen oder Lehrer*innen, Therapeut*innen oder andere pädagogische Fachkräfte.
Zur Kinderwürde gehört, allem entgegenzutreten, wir diese Würde verletzt und bedroht. Wir nennen sie die “Monster der Entwürdigung”.
Kinderwürde beinhaltet auch, den Fähigkeiten und der Kreativität der Kinder zu vertrauen.
Kinder zu würdigen braucht, dass Eltern und andere Erziehende auch sich selber würdigen und ihre eigenen Bedürfnisse ernst nehmen.
Das gehört zusammen: die Kinder würdigen, die Eltern würdigen, die Beziehung zwischen ihnen würdigen.
Eltern und andere Erziehende brauchen Unterstützung auf Augenhöhe, keine Besserwisserei, keine „Sie-müssen-Sätze“, sondern praktikable Anregungen.
Darum bemühen wir uns.
Die Würde der Kinder
Kinder zu würdigen, bedeutet nicht, allem zuzustimmen, was Kinder und Jugendliche sagen, oder allem nachzugeben, was sie wünschen. Eine Haltung der Kinderwürde bedeutet, Kinder wertzuschätzen und sie zu respektieren. Das bedeutet, dass wir Erwachsenen ihnen zuhören und sie sehen sollten in ihren Besonderheiten und Eigenheiten. Jedes Kind muss einzeln verstanden werden, um angemessene Wege zu finden, mit ihm klarzukommen und es zu begleiten. Es gibt keine pauschalen Rezepte.
Wenn Kinder den Erziehenden Schwierigkeiten bereiten, haben wir Erwachsenen meist Schwierigkeiten, sie zu verstehen und zu erreichen. Sogenannte „schwierige“ Kinder sind Kinder in Not, die unter Belastungen leiden, die sie nicht bewältigen können. Meistens ist das, was an schwierigem Verhalten die Erwachsenen nervt, zunächst ein Notbehelf gewesen, um das, was ihnen Schwierigkeiten macht, zu bewältigen. Eine Haltung der Kinderwürde einzunehmen bedeutet, auf die Suche nach den Quellen dieser Schwierigkeiten zu gehen.
Negative Erfahrungen von Kindern sind fast immer Beziehungserfahrungen. Deshalb brauchen die Kinder neue würdigende Beziehungserfahrungen, in denen sie sich wertgeschätzt und angenommen fühlen. Dazu gehört, dass wir uns für sie interessieren, uns mit ihnen reiben, sie nähren und sie spiegeln.
Die Würde der Eltern und Fachkräfte
Auch Erwachsene, auch Erziehende brauchen Wertschätzung und Respekt. Sie sollten ihre Grenzen wahren und ihre eigenen Gefühle wertschätzen.
Kinder zu würdigen, ohne auch gleichzeitig die Würde der Erziehenden ernst zu nehmen, kann nicht gelingen. Eltern und andere Erziehende sind Vorbild für Kinder und Jugendliche, auch in ihrem Bemühen um Würdigung.
Die weitaus meisten Eltern lieben ihre Kinder und haben Interesse an ihrem Wohlergehen. Sie und auch andere Erziehende verfügen über viele Kompetenzen. Gleichzeitig brauchen sie manchmal Unterstützung, Anregungen oder Übersetzung, was Kinder meinen und brauchen.
Eltern und andere Erwachsene haben alle eine Ausbildung: Sie waren Kinder.
Die Erfahrungen, was ihnen als Kind gutgetan hat und was nicht und was sie gebraucht hätten, sind ein Schatz, den es zu heben gilt.
Die Monster der Entwürdigung
Kinder und Jugendliche können es verkraften, wenn sie mal übersehen, beschämt oder anderswie entwürdigt werden. Doch wiederholen sich solche Erfahrungen, dann haben sie nachhaltige Folgen. Deswegen ist es wichtig, sich mit den verschiedenen Entwürdigungen, denen Kinder und Jugendliche ausgesetzt sein können, zu beschäftigen und ihnen entgegenzutreten. Ich habe die wichtigsten Erfahrungen der Entwürdigungen von Kindern und Jugendlichen in dem Bild der „Fünf Monster der Entwürdigung“ zusammengefasst.
Das Monster der Gewalt
Die bekanntesten Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen sind zunächst einmal Erfahrungen körperlicher Gewalt. Meistens bekommen sie Schläge, die nicht nur körperlichen, sondern auch seelischen Schmerz hinterlassen. Doch auch Blicke, Worte, der Klang der Stimme und Gesten können gewalttätig sein. Sie können ähnliche Folgen haben wie körperliche Schläge. Die stille Gewalt ist nicht so offensichtlich und weniger greifbar, doch entwürdigt sie Kinder und Jugendliche ebenso nachhaltig wie körperliche Gewalt. Auch sexuelle oder sexualisierte Gewalt ist im Wesentlichen Gewalt. Beim sogenannten „sexuellen Missbrauch“ geht es vorwiegend nicht um Sexualität, sondern um Machtausübung. Dies ist ein Teil des Monsters der Gewalt.
Das Monster der Erniedrigung
„Immer machst du alles falsch!“, „Du bekommst ja sowieso nichts auf die Reihe!“ „Aus dir wird nichts!“ – Wenn Kinder mit solchen und anderen Worten beschimpft werden, dann werden sie erniedrigt. Geschieht dies vereinzelt, dann können Kinder das mit Unterstützung von Erziehenden verkraften. Doch bleiben sie damit allein oder machen sie wiederholt solche Erfahrungen, entsteht in ihnen oft das Grundgefühl, wertlos zu sein. Ihr sogenannter „Innerer Ort“, von dem aus sie sich und ihre Welt bewerten, Entscheidungen treffen und ihr Selbstbewusstsein entwickeln, kann so brüchig werden, wird zumindest aber verunsichert und kleingehalten.
Das Monster der Beschämung
Scham hat wie jedes Gefühl einen Sinn. Die natürliche Scham schützt uns Menschen davor, dass wir unser Intimes preisgeben, und warnt uns, falls wir das getan haben oder dazu neigen. Die natürliche Scham ist der Wächter der Grenzen der menschlichen Intimität. Dann gibt es eine andere Seite der Scham, die nicht zur natürlichen Scham zählt und auch nicht von innen, sondern von außen kommt. Das ist die Beschämung. Da werden Geschichten über Kinder in ihrem Beisein erzählt, die ihnen peinlich sind. Da werden Fotos oder Filmaufnahmen mit Missgeschicken des Kindes ins Internet gestellt. Da werden Kinder und Jugendliche als „zu“ … beschämt: Du bist zu dick, zu ausländisch, zu dünn, zu schlau, zu dumm, zu tollpatschig, zu sensibel, zu frech usw. …
Kinder und Jugendliche leiden unter solchen Erfahrungen. Schamgrenzen werden aufgeweicht oder gar zerstört. Manche fangen selbst an, andere zu beschämen oder achten nicht mehr auf die eigenen Grenzen der Intimität. Andere ziehen sich zurück und wagen es nicht mehr, sich in der Öffentlichkeit oder in anderen Beziehungen mitzuteilen und zu zeigen. Beschämung hat nachhaltige Folgen.
Das Monster der Entwürdigung: Ins Leere gehen
Wenn ein Kind eine Hand ausstreckt und da ist niemand, wenn es etwas mitteilen will und es wird nicht gehört oder übertönt, wenn es sich anlehnen will und da ist keiner, an den es sich anlehnen kann, wenn es Druck erfährt, statt gedrückt zu werden, wenn es hilfesuchend nach anderen Menschen schaut und niemanden findet oder der Blick nicht erwidert wird – dann sind dies entwürdigende Erfahrungen der Leere. Wenn Kinder und Jugendliche ins Leere gehen, entsteht in ihnen das Gefühl, dass sie es nicht wert sind, gesehen und gehört zu werden, gehalten zu werden und Schutz zu erfahren. Viele Kinder machen solche Leere-Erfahrungen schon in sehr frühem Alter. Andere erfahren die Leere, wenn sie Gewalt und andere Not erlebt haben. Sie brauchen Trost, Halt und Parteilichkeit, erfahren sie aber nicht, sondern bleiben allein. Manche versuchen dann, die Begegnung mit anderen Menschen durch aggressive Handlungen zu erzwingen. Andere ziehen sich zurück und resignieren. Wenn Kinder und Jugendliche ins Leere gehen, entwürdigt und schmerzt sie dies nachhaltig.
Das Monster der giftigen Atmosphären
Was Menschen in ihren Gefühlen und Stimmungen und ihrem sonstigen Erleben empfinden, strahlt aus und kann die Atmosphäre zwischen Menschen beeinflussen. Und umgekehrt kann die Atmosphäre, die in einem Erlebensraum zwischen Menschen existiert, das Erleben jedes Einzelnen bestimmen. Manche dieser Atmosphären sind giftig. Sie entwürdigen die Kinder und Jugendlichen, die in ihnen aufwachsen müssen.
Solche giftigen Atmosphären können darin bestehen, dass sie voller Druck sind und Kinder und Jugendliche niederdrücken. Andere Kinder leben in Atmosphären, die durch Bitterkeit geprägt sind oder in Atmosphären der ständigen Angst vor allem. Wieder andere befinden sich in Atmosphären, die durch Schuldgefühle geprägt sind, die für die Kinder dann selbstverständlich werden und dazu führen, dass sie sich wegen allem schuldig fühlen, was geschieht. Auch solche Atmosphären sind ein Monster der Entwürdigung. Sie werten Kinder und Jugendliche ab und führen dazu, dass sich die jungen Menschen für wertlos halten oder verzweifelt um ihren Selbstwert kämpfen.
Die Monster der Entwürdigung gilt es zu erkennen. Kinder und Jugendliche, die ihnen ausgeliefert sind, brauchen Unterstützung und Parteilichkeit der Erwachsenen.
Sieben Geschenke für eine sichere Bindung
Warum Kinder Geschenke brauchen
Bindungsverhalten wird gelernt. Entscheidend sind dafür die Beziehungserfahrungen zwischen Eltern und Kindern. Doch was ist das eigentlich: Bindung? Es wird zwar viel darüber geredet, aber selten wird definiert, was die Menschen, auch die Fachleute darunter verstehen. Ich verstehe unter Bindung, dass Menschen eine Fähigkeit zu anhaltenden und vertrauensvollen Verbindungen zu anderen Menschen erworben haben. „Anhaltend“ meint, dass es nicht nur um kurze Begegnungen geht, sondern um kontinuierliche Verbindungen zu anderen Menschen, die über einen längeren Zeitraum gelebt werden. Und was mit „vertrauensvoll“ gemeint ist, ist klar: Kinder wie Erwachsene bringen anderen Menschen grundsätzlich Vertrauen entgegen und können sich deshalb mit ihnen verbinden.
Die Fähigkeit zu einer sicheren Bindung ist jedem Menschen gegeben. Doch ob sich diese Fähigkeit in der Kindheit entwickelt und entfaltet, hängt davon ab, welche Erfahrungen die Kinder machen. Bindungsfördernde Erfahrungen entstehen über Begegnungen, über viele kleine Begegnungen. In diesen erleben die Kinder, ob sie Erwachsenen vertrauen können oder nicht. Ob es gut für sie ist und sie glücklich macht, sich mit den Erwachsenen nachhaltig zu verbinden, oder ob dies gefährlich ist, weil es immer wieder unterbrochen und gestört wird, weil die Kinder sich verletzt fühlen und alleine gelassen. Noch einmal: Ein sicheres Bindungsverhalten ist in jedem Kind angelegt, doch es braucht dazu Erfahrungen, die die Kinder machen und die es ihnen ermöglichen, dieses sichere Bindungsverhalten zu entwickeln und als Kompetenz zu erwerben, die sie in ihrem späteren Leben aktivieren können.
Ich bin der festen Überzeugung, dass Kinder, um dieses Bindungsverhalten zu entwickeln, keine Leistungen erbringen müssen. Im Gegenteil, sie brauchen Geschenke. Geschenke von uns Erwachsenen. Dazu zählen selbstverständlich mit besonderer Wichtigkeit die Eltern, aber auch andere Erziehende, Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher, Nachbarn, Freunde, Großeltern usw..
Die wichtigsten Geschenke, mit denen Kinder eine sichere Bindung entwickeln können, möchte ich in den folgenden Beiträgen vorstellen. Es gibt zahlreiche weitere, doch dies sind diejenigen, die mir in meinen pädagogischen und therapeutischen Erfahrungen als die wichtigsten begegnet sind.
Das erste Geschenk: Kinder brauchen Erwachsene, die ihre Gefühle leben und zeigen
Denn Gefühle haben den Sinn, Verbindungen zwischen den Menschen zu schaffen und sie auszudrücken. Was ist der Sinn der Gefühle? Er besteht darin, spontanes Verhalten zu beeinflussen. Wenn ich mich ärgere, möchte ich das Verhalten eines anderen Menschen oder mein eigenes verändern. Wenn ich Angst habe, ziehe ich mich vor anderen zurück. Wenn ich neugierig bin, wende ich mich anderen zu. Wenn ich mich schäme, versuche ich mich zu verbergen … Jedes Gefühl zeigt und beeinflusst gleichzeitig die Begegnung mit anderen Menschen. Deswegen ist es unmöglich, Begegnungsfähigkeiten mit anderen Menschen zu entwickeln und dabei die Gefühle und das Gefühlsleben auszusparen.
Es reicht nicht, über Gefühle zu reden. Es ist wichtig, dass wir Erwachsenen den Kindern unsere Gefühle zeigen und sie mit ihnen teilen. Mit Worten oder ohne Worte. Mit Berührungen oder ohne. Wichtig ist, dass Gefühle für Kinder spürbar sind und selbstverständlich auch, dass sie dafür Worte finden. Wenn wir Erwachsenen Kindern unsere Gefühle zeigen, eröffnen wir ihnen auf der einen Seite ein Spektrum von Begegnungsmöglichkeiten, die sich zu einer sicheren Bindung anhäufen können. Auf der anderen Seite sind wir Vorbild. Wir zeigen ihnen, dass und wie wir mit unseren Gefühlen anderen Menschen begegnen. Die Gefühle anderer Menschen zu kennen, schafft darüber hinaus Vertrauen. Wir wissen, woran wir sind, und unsere Kinder auch.
Das Symbol für dieses erste Geschenk ist eine Träne.
Das zweite Geschenk: Wir interessieren uns für Kinder und zeigen das
Auch das Interesse ist ein Gefühl und wir sollten uns für die Kinder interessieren. Das bedeutet, dass wir nachfragen, dass wir hinhören und hinschauen. Wenn Kinder spüren, dass Erwachsene sich für sie interessieren, hebt dies ihr Selbstwertgefühl. Sie fühlen sich beachtet und somit geachtet. Im Gegenzug, wenn wir Kinder übersehen und überhören, erhöht das die Selbstabwertung der Kinder. Sich für Kinder zu interessieren, beinhaltet, nicht nur nach den Noten und Hausaufgaben zu schauen, sondern nach allem, was die Kinder bewegt.
Wenn sie viel am Computer spielen, dann wäre es gut, nicht nur darüber zu schimpfen oder auch gegebenenfalls Grenzen zu setzen, sondern sich auch dafür zu interessieren, mit welchen Computerspielen die Kinder sich gerne beschäftigen und in welchen Netzwerken sie sich bewegen. Wenn Kinder dann manchmal abblocken, dann ist das ein Ausdruck dessen, dass sie auch ihr Recht auf Intimität haben und uns Erwachsenen Grenzen setzen. Dies ist zu respektieren. Wenn wir uns für Kinder interessieren, dann heißt das nicht, dass wir alles wissen müssen, sondern dass wir nach allem fragen dürfen.
Sich für Kinder zu interessieren ist nicht nur eine Frage der Information, sondern auch eine Frage der Resonanz. Wenn wir zum Beispiel erfahren, dass ein Kind Kummer hat, dann ist es gut und wichtig, dass wir nicht gleich nach Lösungen suchen oder Unterstützung anbieten, sondern auch unsere Gefühle zeigen, dass wir berühren und berührbar sind. In jeder Hinsicht.
Beteiligt zu sein, bewirkt, dass Kinder vertrauen können. Solche Begegnungen stärken die Fähigkeit, sich zu verbinden und zu binden.
Das Symbol für das zweite Geschenk ist das Ohr.
Das dritte Geschenk: Wahrhaftigkeit
Die meisten Kinder durchschauen, ob wir ihnen gegenüber ehrlich sind oder nicht. Wenn wir so tun, als ob wir ihnen zuhören, wenn wir den Anschein erwecken, wir würden uns für sie interessieren und sind gleichzeitig mit unseren Gedanken bei der Arbeit oder einem anderen Thema, dann spüren die Kinder, dass Erwachsene so tun, als ob. Selbstverständlich können wir uns nicht immer offenen Herzens und mit all unseren Sinnen den Kindern zuwenden. Wenn ein Kind mit uns spielen oder reden möchte und wir sind gerade mit etwas anderem beschäftigt, dann ist es deswegen besser wahrhaftig zu sein und zu sagen: „Ich kann jetzt gerade nicht. Ich bin so voll mit etwas anderem. Ich höre dir später zu.“ Dies ist viel besser, als wenn wir unsere eigenen Befindlichkeiten unterdrücken und so tun, als würden wir uns dem Kind zuwenden, in Wirklichkeit aber dazu nicht in der Lage sind.
Wahrhaftigkeit ist das Geschenk, das wir den Kindern, die wir begleiten und erziehen, zukommen lassen sollten. Zur Wahrhaftigkeit gehört nicht, dass wir den Kindern alles von uns mitteilen, sie beinhaltet immer eine partielle Offenheit. Wir müssen nicht alles den Kindern erzählen. Es gibt auch intime Räume und Schutzräume der Erwachsenen. Zu denen gehört, dass die Kinder draußen bleiben. Doch alles, was wir erzählen und mitteilen, sollte wahrhaftig sein. Dieses Konzept der partiellen, aber wahrhaftigen Offenheit ist ein Geschenk für die Kinder. Denn auch für Kinder ist Wahrhaftigkeit ein großer Wert. Sie wollen ernst genommen werden als wahrhaftige Menschen.
Zum Thema Wahrhaftigkeit fällt mir deshalb immer ein Junge ein, der sagte: „Ich lüge nicht!“, als ihm unterstellt wurde, die Unwahrheit zu sagen. Er trommelte dabei mit seinen Fäusten auf seine Brust. Das Symbol der Wahrhaftigkeit ist dieses Tarzan-Trommeln.
Das vierte Geschenk: Den Tanz von Nähe und Distanz wagen
Wir Erwachsene, die mit Kindern zu tun haben, hören manchmal: „Du musst distanzierter sein!“ Bei anderen Gelegenheiten sagen uns selber: „Du musst näher rangehen! Du brauchst mehr Nähe zu dem Kind!“ Ich bin der festen Überzeugung, dass beide Haltungen richtig sind und dass es falsch ist, eine von den beiden Haltungen einseitig zu verabsolutieren. Es gibt kein bestimmtes Maß der Nähe oder ein „richtiges“ Maß der Distanz gegenüber Kindern oder gegenüber einem bestimmten Kind. Jede Ideologisierung eines bestimmten Maßes von Distanz oder Nähe widerspricht den Lebensbedingungen des Kindes und den Gegebenheiten der Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen. Kinder brauchen den Tanz von Nähe und Distanz.
In dem Wort Distanz sind die Buchstaben t a n z, also Tanz, enthalten. Deswegen sage ich: Seien Sie beweglich. In einer Situation gehen Sie näher heran, in der anderen weiter weg. Achten Sie auf Ihre eigenen Bedürfnisse und auf die Bedürfnisse des Kindes. Halten Sie sich fern von allen ideologischen Verabsolutierungen, sondern tanzen Sie den Tanz der Nähe und Distanz.
Das Symbol für dieses Geschenk ist der tänzelnde Muhammed Ali. Dieser große Mensch und Boxer revolutionierte das Boxen. Ganz egal, was Sie vom Boxsport halten: Vor Muhammed Ali standen sich zumindest im Schwergewicht zwei Männer gegenüber und schlugen aufeinander. Muhammed Ali tanzte das Boxen. Wenn sein Gegner zuschlug, tanzte er weg. Wenn er selber wieder angriff, tänzelte er heran. Dieser Tanz von Nähe und Distanz habe ich vor Augen, wenn ich Sie zu dem vierten Geschenk ermutigen möchte.
Die Kinder lernen dadurch, dass die Begegnungen im unterschiedlichen Maße Nähe aber auch Abstand erfordern. Sie lernen von Ihnen ganz selbstverständlich, dass es Beweglichkeit bedarf, auf Menschen zuzugehen oder sich von ihnen zu entfernen um Begegnungen, die auch anhaltend und vertrauensvoll sein können, zu ermöglichen.
Das fünfte Geschenk: Halt und Sicherheit
Kindern Halt und Sicherheit zu geben, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Doch wie bei vielen Sätzen mit dem Wort „eigentlich“: Sie ist es nicht. Deswegen ist alles, was wir den Kindern an Sicherheit und Halt geben können, ein notwendiges Geschenk, damit sie nachhaltiges und vertrauensvolles Bindungsverhalten erlernen. Wer verunsichert wird, wer ungeschützt ist und Gefahren ausgesetzt wird, kann sich nicht anderen Menschen anvertrauen. Wie sollen vertrauensvolle Begegnungen möglich sein, wenn Kinder geschlagen oder verlassen werden?
Halt und Sicherheit bedeuten nicht nur das Fernhalten von Gewalt und anderen Formen der Erniedrigung. Sie umfassen auch eine aktive Haltung. Wir sollten Kindern die Sicherheit geben, dass sie auch von Fehlern berichten können, dass sie auch Unsicherheiten zeigen, dass sie sich anlehnen können, wenn es ihnen schlecht geht. Genauso, dass sie ihre Freude mit uns teilen und für Stärke und Erfolge gelobt und bekräftigt werden. Kindern Halt zu geben, ist konkretes Verhalten und Haltung zugleich. Wir können Kinder nicht vor allen Gefahren des Lebens bewahren, aber wir können ihnen die Sicherheit geben, dass wir uns darum bemühen und dann, wenn es uns nicht gelingt, wir für sie da sind.
Das sechste Geschenk: Vorbild sein
Wir Erwachsenen sind Vorbild für die Kinder, ob wir wollen oder nicht, ob uns dies bewusst ist oder unbewusst bleibt. Sie hören weniger auf das, was wir sagen, sondern orientieren sich mehr an dem, wie wir uns verhalten.
Ein besonders wichtiger Aspekt des Vorbildseins besteht darin, dass wir Erwachsene auch den Kindern zeigen sollten, dass wir uns selber ernst nehmen und einen Eigen-Sinn entwickeln. Ich höre oft von Eltern, dass sie nicht wissen, was sie mit ihren Kindern spielen sollen, zumindest wenn die Kinder älter sind. Sie kaufen dann neue Geschenke oder sind ratlos und ziehen sich zurück. Meine Frage ist dann immer: „Was spielen Sie denn gerne? Oder: Was haben Sie in dem Alter Ihres Kindes gerne gespielt?“ Dies öffnet den Blick. So wichtig es ist, sich nach den Interessen der Kinder zu erkundigen und auch soweit wie möglich auf sie einzugehen, so wichtig ist es auch, eigene Interessen zu respektieren und in die Beziehung und in die Begegnung einzubringen. Wer dies nicht tut, vermittelt den Kindern, dass es falsch ist, den Sinn für das Eigene zu entwickeln und sich ernst zu nehmen. Also fragen Sie sich: „Wozu habe ich Lust? Was mag ich? Was mache ich gerne?“
Das Symbol für dieses sechste Geschenk besteht darin, sich die Lippen zu lecken. Sie müssen nicht immer kochen, was die Kinder wollen. Auch mal das, worauf Sie Lust haben.
Das siebte Geschenk: das große UND leben
Viele Verhaltensweisen gegenüber Kindern sind von Einseitigkeiten geprägt: „Sie müssen immer konsequent sein und dürfen keine Ausnahmen machen.“ Oder: „Du darfst das Kind nicht verwöhnen!“ Oder: „Es muss aufgegessen werden, was man sich auf den Teller legt!“ … Wir lehnen solche Einseitigkeiten ab. Wir empfehlen stattdessen, dass große UND zu leben.
Selbstverständlich sollen Regeln konsequent durchgehalten werden UND es kann Ausnahmen geben. Selbstverständlich sollte mit Nahrungsmitteln sorgsam umgegangen werden UND wenn ein Kind etwas nicht mehr mag. wäre es völlig falsch, es zu zwingen, alles aufzuessen. Das große UND vereinbart scheinbar Gegensätzliches und dies zu erleben, ist für Kinder wesentlich. „Ich finde dein konkretes Verhalten unsäglich und ärgere mich darüber UND ich habe dich trotzdem gerne!“ Diese Haltung des UND fördert vertrauensvolle und nachhaltige Begegnungen.
Das Symbol dieses siebten Geschenks ist das große U.