Texte zum Thema Kinderwürde

– von Udo Baer

Udo Baer sitzt in seinem Arbeitszimmer und arbeitet an seinem Laptop.

Themen

Neun Tipps für Elterngespräche

Viele Fachkräfte führen gerne Elterngespräche. Manche sind darin sehr routiniert. Doch es gibt auch Fachkräfte in Kitas und in den Schulen, die sich vor Elterngesprächen fürchten – oder zumindest ein unbehagliches Gefühl vor den Gesprächen haben.

Sie sind unsicher. Sie haben vielleicht schlechte Erfahrungen gemacht oder möglicherweise überhaupt noch wenig Erfahrungen in solchen Konstellationen. Ich möchte Ihnen deshalb einige Tipps geben, wie Sie Elterngespräche konstruktiv und für alle Seiten bekömmlich führen können. Dabei helfen keine ausgefeilten Pläne.

Jedes Gespräch wird anders verlaufen und es ist immer notwendig, sich auf die konkreten Menschen in der konkreten Situation einzustellen.

Tipp 1: Fragen Sie am Anfang: „Wie geht es Ihnen?“

Gehen Sie davon aus, dass vielen Eltern die Einladung zu einem Elterngespräch in Kita oder Schule Druck macht. Sie denken, dass es darum geht, dass das Kind etwas falsch macht, dass es Probleme gibt, dass sie vielleicht kritisiert werden oder zumindest unzulänglich sind. Der Druck kann sich zu Beginn eines Gespräches entladen oder während eines Gespräches schnell hochschaukeln. Deswegen versuchen Sie, eine offene Atmosphäre zu schaffen und zu zeigen, dass Sie an den Eltern oder an dem Elternteil interessiert sind.

Die Frage „Wie geht es Ihnen?“ ist eine wunderbare Einstiegsfrage, wenn sie nicht nur als Floskel, sondern als Ausdruck ehrlichen Interesses gemeint ist. Sie können dann nachfragen und so das Klima des Gespräches, zumindest des Anfangs, beeinflussen.

Tipp 2: Erklären Sie Ihre Absicht!

Es besteht ein Unterschied, ob Sie mit Eltern ein offenes Gespräch führen und Sie sich gegenseitig austauschen und neugierig sind oder ob Sie ein bestimmtes Interesse haben. Darüber sollten Sie sich vorher klar werden. Beide Absichten müssen sich nicht ausschließen. Sie können ein offenes Gespräch führen und in dieses Gespräch eine Frage einfließen lassen. In jedem Fall sollten Sie sich darüber klar werden, was Sie wollen. Dann können Sie auch gelassener darauf eingehen, was sich in dem Gespräch ergibt.

Also überlegen Sie vorher: Was ist mein Interesse? Welche Fragen habe ich? Wozu möchten ich die Eltern oder Elternteile auffordern? Worum möchten ich sie bitten?

Tipp 3: Hören Sie zu!

Es ist wichtig, dass Sie nicht nur selbst Ihr Anliegen vorbringen, sondern auch zuhören. Das schafft einen gegenseitigen Resonanzboden und zeigt, dass Sie interessiert sind. Es reduziert den Druck der Eltern.

Wenn Sie zuhören, wird manchmal Schlimmes erzählt, schlimme Erfahrungen in der Familie, Krankheiten, Tod, Trennungen, oft auch schlimme Erfahrungen mit Kindern. Sie merken manchmal, dass die Eltern bzw. Elternteile verzweifelt sind und eigentlich selbst Unterstützung brauchen. Hören Sie zu. Sagen Sie in jedem Fall, dass es Ihnen leidtut, wenn das der Fall ist. Sie können als Fachkraft in der Kita oder als Lehrer*in in den meisten Fällen nicht selbst helfen, aber Sie können und sollten fragen, ob die Eltern, die Mutter, die Familie eine Unterstützung brauchen. Vielleicht können Sie Tipps zu Unterstützungsmöglichkeiten in Ihrer Region geben.

Oft haben Kinder Schwierigkeiten und zeigen problematisches Verhalten. Der Hintergrund besteht dann manchmal in Nöten innerhalb der Familiensysteme. Oft brauchen die Kinder dann keine Therapie, sondern es sind therapeutische Hilfen in der Familie für die Mütter, Väter oder andere Personen sinnvoll oder notwendig, um die Not zu wenden. Selbstverständlich werden Sie nicht fordernd sagen: „Sie brauchen eine Therapie!“ Das würde Abwehr hervorrufen. Aber den Eltern einen Anstoß zu geben, sich Hilfe zu suchen und Unterstützungsmöglichkeiten zuzulassen, können Sie auch im Interesse des Kindes anregen, zum Beispiel: „Ich finde das überfordernd, was Sie erzählen. Ich glaube, es täte allen gut, wenn Sie sich Unterstützung suchen. Was denken Sie?“

Als Lehrer*in bzw. als Fachkraft in der Kita sind Sie Anwalt oder Anwältin vor allem des Kindes.

Tipp 4: Lassen Sie sich unterstützen!

Ich habe mehrmals von Kolleg*innen in Kita und Schule gehört, dass sie vor bestimmten Eltern Angst haben oder sich zumindest überfordert fühlen: „Herr X. hört nicht zu. Er fordert immer nur und wirft mir alles Mögliche an den Kopf, was ich falsch mache. Ich bin nach so einem Gespräch völlig fertig.“ Selbst wenn dies nicht so krass sein sollte: Auch Sie haben das Recht, sich Unterstützung zu holen. Bitten Sie einen Kollegen oder eine Kollegin bei einem Gespräch mit solchen Elternteilen dabei zu sein. Wenn es Ihnen dann „die Sprache verschlägt“ oder Sie zu sehr verletzt sind, als dass Sie sich gut wehren könnten, wenn Sie dadurch nicht in der Lage sind, einen konstruktiven Dialog zu befördern, kann dann der Kollege oder die Kollegin eingreifen.

Selbst wenn die Unterstützungsperson nicht aktiv wird, wirkt meist schon ihr Dasein als Unterstützung.

Tipp 5: Stellen Sie das Kind in den Vordergrund!

Wenn Sie mit einem Elternteil ein Gespräch führen, sind eigentlich drei Personen beteiligt: Sie, der Elternteil und das Kind. Versuchen Sie Fragen nach dem Kind in den Vordergrund zu stellen. Das ist Ihr Hauptinteresse und Ihr Hauptanliegen. Hilfreich ist oft die Frage: „Wie geht es Ihrem Kind zu Hause?“ Wenn dann die Eltern oder ein Elternteil etwas erzählt, fragen Sie nach. Manchmal werden allgemeine Aussagen getätigt und dann ist es gut, zu konkretisieren. Fragen Sie nach einem Beispiel. Wenn eine Mutter erzählt, dass das Kind zu Hause oft unruhig ist, könnten Sie fragen: „In welchen Situationen zum Beispiel? Woran merken Sie das? Wie zeigt sich das?“ Je konkreter es um das Kind geht, desto fruchtbarer ist der Austausch.

Tipp 6: Fördern Sie Perspektivenwechsel!

Sie kennen das Kind, um das es in dem Elterngespräch geht, aus der Schule oder aus der Kita. Das ist eine Perspektive von mehreren. Sie werden dabei versuchen, möglichst offen zu sein und möglichst unterschiedliche Aspekte wahrzunehmen. Doch wie sich das Kind verhält und was es erlebt und fühlt außerhalb Ihrer Institution, können Sie nicht wissen. Manchmal erzählt ein Kind etwas darüber, meist aber nicht.

Also fragen Sie. Nutzen Sie den Perspektivenwechsel. Fragen Sie zum Beispiel: „Was erzählt Ihr Kind von der Kita?“ Oder: „Was sagt es von der Schule?“ „Geht es gerne zur Schule oder schimpft es?“

Alle Eltern waren auch einmal in der Schule und viele von ihnen auch in einer Kita. Wenn es um das Kind geht, können Sie auch fragen: „Wie ging es Ihnen denn in der Kita oder in der Schule, als Sie so alt waren wie Ihr Kind? Was haben Sie für Erfahrungen gemacht? Was hätten Sie sich gewünscht? Welche Lehrer*innen fanden Sie gut, welche weniger gut?“ Darüber kommt man oft in ein produktives Gespräch.

Manche Eltern erzählen Negatives über ein Kind. Das ist oft Ausdruck ihrer Sorge oder Überforderung. Auch dann ist ein Perspektivwechsel sinnvoll: „Was schätzen Sie denn an Ihrem Kind? Was mögen Sie an dem Kind? Was macht es gut? Worauf sind Sie stolz?“

Tipp 7: Mach Sie Komplimente!

Viele Eltern, die zu einem Elterngespräch kommen, haben Schuldgefühle. Sie vermuten, etwas falsch gemacht zu haben. Sie fürchten, versagt zu haben, oder sie sind darauf eingestellt, dass an dem Kind herumgezerrt wird, dass es kritisiert wird. Sie wollen es verteidigen. Manche werden schon im Vorfeld aggressiv, um diese Schuldgefühle und diesen Druck loszuwerden.

Deswegen hat es sich bewährt, die Eltern zu fragen: „Darf ich Ihnen ein paar Komplimente für Ihr Kind machen?“ Das entzieht dem Druck den Boden, nicht immer, aber meistens, und schafft eine andere Atmosphäre. Es unterstützt eine positive und wohlwollendere Blickweise auch der Eltern auf das Kind und kann das Unterstützungsbündnis zwischen den privaten und den im öffentlichen Raum Erziehenden stärken.

Tipp 8: Erzählen Sie von einem schönen Erlebnis!

Sehr bewährt hat sich, wenn Sie sich vor einem Elterngespräch überlegen, welches schöne Erlebnis Sie mit dem Kind in der Schule oder in der Kita hatten. Erzählen Sie davon. Es reicht ein einzelnes Erlebnis. Nicht zu viel, nicht mehrere, sondern eins. Das ist wichtig. Sie können damit ein Gespräch beginnen oder auch abschließen.

Das schafft Verbindung zwischen Ihnen und den Eltern.

Tipp 9: Soll das Kind bei den Elterngesprächen dabei sein?

In manchen Kitas und Schulen ist es die Regel, dass Kinder bei den Elterngesprächen dabei sind. In anderen werden die Elterngespräche allein geführt nur zwischen den Erwachsenen. In wieder anderen Institutionen wird dies situativ geregelt.

So wichtig es ist, Kinder möglichst einzubeziehen, wenn es um die Kinder geht, so sehr kann auch die Beteiligung von Kindern an einem Elterngespräch diese überfordern. Es ist nicht gut, mit anderen Erwachsenen über Kinder zu sprechen, wenn sie dabei sind und passiv bleiben.

Wenn ein Kind dabei ist, muss es aktiver Partner in dem Gespräch werden, dann sollte daraus ein Dreier-Dialog werden. Das gelingt bei manchen Kindern, bei anderen ist es schwierig oder unmöglich. Das hängt nicht nur vom Alter ab, sondern auch von dem Befinden des Kindes und sehr von der Beziehung zwischen Eltern und Kindern.

Insbesondere wenn es Probleme gibt, bin ich zurückhaltend, was die Beteiligung von Kindern betrifft. Bei manchen Situationen kann man die Kinder fragen: „Wie siehst du das? Was hältst du davon? Wie war das für dich oder wie ist das für dich?“

Andere Konstellationen machen die Kinder oft sprachlos, zum Beispiel wenn sich Vater und Mutter trennen und Sie den Eindruck haben, dass das Kind unter den Folgen der Trennung leidet und sich das in der Schule oder Kita bemerkbar macht. Ich habe trotz vieler Erfahrungen keine objektiven Kriterien herausfinden können, wann ein Kind bei einem Elterngespräch teilnehmen soll und wann nicht. Verlassen Sie sich auf Ihr Gefühl. Entscheiden Sie situativ, wenn dies möglich ist.

„Offene“ Kindergärten?

von Dr. Udo Baer

Seit langem wird von Reformpädagog/innen das Konzept der „offenen“ Kindergärten propagiert. In der letzten Zeit findet es besonders in Niedersachsen Verbreitung. Ich halte es für eine Konzept, das die Bedürfnisse der schwächsten ignoriert und die der meisten Kinder nicht würdigt.

Kern dieses Konzeptes ist, dass die festen Gruppenstrukturen in den Kitas und Kindergärten aufgelöst werden und die Kinder jederzeit neu wählen können, wo sie hingehen und an welchen Angeboten sie sich beteiligen wollen. Ziel ist, die Kinder „als eigenständige Persönlichkeit anzusehen mit bestimmten Entwicklungsbedürfnissen und Interessen“. Das hört sich gut an und hilft vielleicht Kinder mit guten Bindungskompetenzen und Selbstwertgefühl. Doch was ist mit den anderen? Was ist mit den Kindern in Kitas mit 75% Anteil aus Migrationsfamilien? Was ist mit den traumatisierten Kindern – nicht nur aus Flüchtlingsfamilien? Was ist mit den zahlreichen Kindern mit Bindungsstörungen?

All diese Kinder brauchen Halt und Verbindlichkeit. Sie brauchen klare Strukturen, in denen sie Geborgenheit suchen und finden können. Sie brauchen verlässliche Verbindungen zu Erzieher/innen, woraus sie Fähigkeiten zu Bindungen entwickeln können. Ein Kindergarten ist kein Jahrmarkt, in dem mal dieses oder jede ausprobiert werden können. Entwicklung und auch spielerische Entfaltung brauchen einen sicheren Rahmen. Das ist keine „konservative“ Pädagogik, das ist würdigen, was ist, für die, die es am dringendsten benötigen.

Das Konzept der „offenen“ Kindegärten und Kitas ignoriert nicht nur die Bedürfnisse dieser Kinder, es übergeht, dass jede Erziehung und Pädagogik Beziehungsgeschehen, Beziehungsarbeit ist. Beziehung ist in der Begleitung von Kindern nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts. Kinder brauchen stabile, verlässliche und vertrauensvolle Beziehungen.

Corona-Zeit: Folgen für Kinder

Erkennen und damit umgehen

Die Corona-Pandemie und deren gesellschaftliche Auswirkungen haben Folgen für Kinder jeden Alters. Für manche sind sie stärker, für andere schwächer – je nach den Vorerfahrungen der Kinder und deren Lebensbedingungen. Es ist wichtig, von diesen möglichen Folgen zu wissen, um damit kindgerecht umgehen zu können. Denn die Kinder sprechen die Folgen oft nicht aus. Die Zahl der Kinder, die angeben, dass sie psychisch belastet sind, steigt seit dem Frühjahr enorm, laut der Copsy-Studie des Hamburger Universitätsklinikums, auf 71 Prozent.

Diese Thesen sollen erste Hinweise geben.

Coronafolge: Konkrete Ängste

COVID 19 ist eine heimtückische Bedrohung, an der Menschen sterben können. Kinder haben Ängste, selber zu erkranken. Noch stärker sind die Ängste, dass der Vater sich ansteckt, weil er Arzt oder Paketbote ist, oder die Mutter, die im Altenheim oder als Verkäuferin arbeitet. Auch die Kontakteinschränkungen zu den Großeltern führen zu Sätzen wie: „Stirbt Oma jetzt?“ Meist bleiben solche Sätze nur Gedanken und werden nicht ausgesprochen.

Gegen Ängste hilft, sie zu konkretisieren: Was fürchtest konkret? Und immer wieder darüber zu reden. Und Halt zu geben, zu trösten, zu stützen ... Auch über eigene Ängste zu reden, ist sinnvoll, wenn es damit verbunden ist, zu sagen: Ich passe auf mich und dich auf, wir schaffen das, indem wir konkret dies und jenes tun ...

Coronafolge: Angstatmosphären

Nicht nur konkrete Ängste beschäftigen Kinder, sondern sie leben in Corona-Zeiten oft auch in Angstatmosphären. Diese werden durch Corona-Folgen geprägt, weil die Eltern vielleicht Ängste haben oder ein Verwandter angesteckt ist oder in Quarantäne muss. Es gibt aber auch andere Ängste, zum Beispiel um die berufliche Zukunft oder die bedrohte Selbstständigkeit, wenn die Kund/innen oder Aufträge wegbleiben. Es gibt Spannungen in der Familie, ob die Beziehung in Lockdown-Zeiten hält. Die Zahl der Scheidungen und zumindest Trennungsberatungen steigt stark. All das schafft Atmosphären der Angst, die in die Kinder und Jugendlichen hineinsickern, für sie aber oft nicht greifbar sind

Gegen diese Atmosphären hilft vor allem das Wissen um sie und ihre Wirkung sowie Transparenz. Und vor allem die wiederholte Aussage: „Du hast nicht Schuld. Nicht an der Atmosphäre (auch wenn du sie „abkriegst“), nicht an der allgegenwärtigen Überforderung, nicht an der schlechten Laune, nicht an der drohenden Trennung der Eltern … Irgendwie müssen wir das gemeinsam überstehen. Für dich ist das bestimmt ebenso belastend wie für uns …“ Auch kreative Gestaltungen können helfen, etwas, was nicht greifbar ist, greifbar werden zu lassen.

Coronafolge: Sprachlosigkeit

Viele Kinder und Jugendliche haben keine Worte für ihre Ängste, Sorgen und Sehnsüchte. Viele Erwachsene auch nicht. Es wird zwar viel über Corona geredet, in der Presse, im Fernsehen, im Internet. Doch zu den damit verbundenen Gefühlen herrscht oft Sprachlosigkeit. COVID 19 verunsichert. Darauf reagieren viele Menschen mit Solidarität, andere mit Aggressivität, wieder andere mit Rückzug, einschließlich Verstummen. Diese allgemeine Sprachlosigkeit fördert das Verstummen mancher Kinder und Jugendlicher.

Gegen Sprachlosigkeit hilft Sprechen. Nicht nur einmal, sondern immer wieder. Jugendliche fühlen sich oft bedrängt, wenn Erwachsene sie auffordern, Gefühle zu äußern. Da kann ein Türöffner sein, über eigene Gefühle, vor allem Unsicherheiten zu reden. Auch oft können Bilder, Klänge, Gesten erzählen, manchmal mehr als Worte.


Coronafolge: Sehnsucht nach Eltern-freier Zeit

Durch Schul- und Kita-Schließungen müssen viele Kinder und Jugendliche viel mehr Zeit in der häuslichen Umgebung verbringen als früher. Das kann zu Spannungen führen, die sich in Verhaltensweisen gegenüber den Eltern äußert, die von diesen oft als Ablehnung und Zurückweisung erlebt werden. Das wiederum führt bei den Kindern und Jugendlichen oft zu Unverständnis und Rückzug in Computerwelten.

Wenn es dann noch unmöglich ist, Freunde und Freundinnen zu treffen, dann steigt die Sehnsucht nach elternfreier Kameradschaft und wächst die Verunsicherung der Zugehörigkeit und des Selbstwertgefühls.

Kinder und Jugendliche brauchen beides: Verbindung zu den Eltern UND elternfreie Zeit. Deswegen lassen Sie Ihre Kinder, wenn sie im Lockdown oder bei einer zweiten Welle zuhause sein müssen, ihre elternfreien Zeiten und Zonen. In Kitas und Schulen fördern Sie Zusammenarbeit und gemeinsames Spiel.

Coronafolge: Viel innere Bewegung, wenig äußere

Wenn Schule und Kitas oder sogar Spielplätze geschlossen sind, wenn Sportunterricht nicht stattfindet, dann hat das körperliche Auswirkungen. Im Corona-Lockdown haben viele Kinder viel an Gewicht zugelegt – zu wenig Bewegung, zu viele Snacks zwischendurch ... Damit wächst oft die Scham für den eigenen Körper. Viel innere Bewegung, aber wenig motorische Bewegung kann sich auch in unkontrolliert-aggressivem Verhalten äußern, um den inneren Druck loszuwerden.

In Lockdown-Zeiten gilt es, sich gemeinsam mit den Kindern und Jugendliche mehr zu bewegen, im Rahmen dessen, was möglich ist. Seilhüpf-Wettbewerbe in der Familie sind auch in der Wohnung möglich, Tobe-Kämpfchen erst recht.

In Kitas und Schule ist es richtig und wichtig, alles zu fördern, was spielerisch Bewegung fördert, ohne Leistungsdruck. Das stärkt auch das Körpergefühl und Selbstbewusstsein.

Coronafolge: Rückschläge bei Bindungsfähigkeiten

Viele Kinder leiden unter Bindungsstörungen oder Bindungsunfähigkeit. Bindungsvermögen ist die Fähigkeit, sich mit anderen Menschen auf vertrauensvolle Beziehungen einzulassen. Kinder, die negative Bindungserfahrungen hatten und in Kita und Schule begonnen haben, ihre Bindungsfähigkeit aufzubauen, erleiden durch die Corona-Erfahrungen oft Rückschläge. Es gibt in manchen Familien kaum Halt für die Kinder, weil Eltern oder Elternteile oft auch bindungsgestört sind. Die Versuche von Lehrer/innen, über das Internet Kontakt zu halten, scheitern oft, weil die Kinder keinen PC und keinen störungsfreien Raum haben oder einfach „abtauchen“, sich nicht melden und allem entziehen, wie sie es gewohnt waren. Oder aggressiv werden.

Das zu wissen ist wichtig.

Es gilt, in Schule und Kita alles zu tun, was die Bindungsfähigkeit fördert. Viele Kinder brauchen weiter das Gefühl „gebraucht“ und nicht einfach abgeschoben zu werden. Persönliche Kontakte und das Angebot, immer willkommen zu sein, auch wenn die Schule nicht wie gewohnt stattfindet, helfen gerade diesen Kindern enorm. Persönliche Begegnungen sind, wenn sie möglich sind, wichtiger als nur das Lernen von Lehrstoff, oft sind sie die Voraussetzung dafür, überhaupt lernen zu können.

Coronafolge: Lernrückstände

Kinder aus Familien, in denen kaum Deutsch gesprochen wird, aber auch Kinder, deren Eltern aus unterschiedlichen Gründen nicht als „Hilfslehrer“ fungieren können, kommen mit oft mit erheblichen Lernrückständen zurück in die Schule. Dies gilt auch und besonders für das Ende der Sommerferienzeit.

Für sie ist, auch kurzfristig, eine besondere Betreuung notwendig, damit sie das das Versäumte rasch wieder aufholen zu können. Auf keinen Fall dürfen sie deswegen, auch nicht von ihren Mitschülern, beschämt werden. Vielmehr sind aufmunternde Worte „Wir schaffen das schon“, denen entsprechende Taten folgen, notwendig.

„Dafür bist du noch zu klein“ – was es mit „Adultismus“ auf sich hat

Immer häufiger taucht in den pädagogischen Diskussionen der Begriff „Adultismus“ auf. Er beschreibt eine Form der Benachteiligung, die entsteht, wenn Kinder und Jugendliche von Erwachsenen als zur Selbst- und Mitbestimmung noch nicht fähige Wesen wahrgenommen werden mit der Folge, dass sie sich den Vorstellungen der Erwachsenen beugen müssen, weil es diese aufgrund ihres Alters und ihrer Erfahrung eben „besser wissen“. In ihrem Buch „Adultismus und kritisches Erwachsensein“ definiert Manuela Ritz den Begriff folgendermaßen:

„Das Wort Adultismus beschreibt das Machtungleichgewicht, das zwischen jungen Menschen und sogenannten Erwachsenen besteht. Kritisches Erwachsensein legt den Fokus auf eben jenen Machtunterschied und sucht Antworten auf die Frage, wie Erwachsene gleichwürdige Beziehungen zu jungen Menschen aufbauen und gestalten können." 1

Dem Machtungleichgewicht zwischen Kindern und Erwachsenen Aufmerksamkeit zu schenken und für die Würdigung der Empfindungen und Interessen der Kinder und Jugendlichen einzutreten, ist verdienstvoll. Viele tun das, wir unter der Überschrift "Kinderwürde", andere mit anderen Begriffen. Das sind immer noch zu wenige und deshalb ist jede zusätzliche Stimme, jedes Engagement sinnvoll. Ob es dafür einen neuen Begriff bedarf, sei dahingestellt. Manche Bezeichnungen kommen und gehen, einige haben nur eine Marketing-Bedeutung, andere erhellen und verschärfen den Blick und die Haltung.

In der Beschäftigung mit dem Machtungleichgewicht zwischen Erwachsenen und Kindern ergeben sich darüber hinaus einige Probleme. Wird ein Machtgleichgewicht angestrebt - und das ist oft offen oder unausgesprochen der Fall - tritt das Problem auf, wie Kinder unmittelbar ihre Stimme erheben und ihre Interessen formulieren können. Kinder werden auch diesen Text nicht lesen. Ein Erwachsener schreibt über sie. Jugendliche können sich artikulieren. Hier sind Formen wichtig, in denen sie es zum Beispiel in Schulen, Jugendheimen und anderswo tun dürfen. Doch für Kinder in der Kita ist dies eine Illusion. Hier und überall braucht es eine Kultur des Zuhörens und Zuschauens, des Interesses an Kindern, an dem, was sie uns zeigen und mitteilen. Ohne schnelle Beurteilungen und ohne Besserwisserei.

Ein weiteres Problem ist die Frage der Macht. Ein zweijähriges Kind kann nicht allein überleben. Es braucht Eltern und andere Erwachsene. Je älter Kinder werden, desto mehr sind sie in der Lage, Entscheidungen zu treffen und zu "machen". Sie ermächtigen sich und brauchen dabei unser Wohlwollen und unsere Unterstützung. Alles, was diese Entwicklung hemmt durch Gewalt und Beschämung, durch Erniedrigung und Ignoranz, ist schädlich und entwürdigt die Kinder. Wir Erwachsene müssen die Widersprüchlichkeit aushalten, dass wir Macht über Kinder und Jugendliche haben UND dass wir sie achten und würdigen sollen und wollen. Jesper Juul habe dafür den wunderbaren Begriff der "Gleichwürdigkeit" geprägt: "Gleichwürdigkeit in Beziehungen bedeutet nach meinem Verständnis, anzuerkennen, dass alle Menschen, egal welchen Alters, von gleichem Wert sind, und die persönliche Würde und Integrität des anderen zu respektieren."

Mit dem Begriff der "Gleichwürdigkeit", den Manuela Ritz auch in ihre Definition des Adultismus einbezogen hat, werden die Unterschiede, auch die Machtunterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen (und auch zwischen Jungen und Hochbetagten) anerkannt UND es wird ein Maßstab, ein Wert geliefert, WIE mit ihnen umzugehen ist.

Das Machtungleichgewicht können wir nicht aus der Welt schaffen, doch wir können es reduzieren und entscheiden, welche Haltung wir einnehmen: Kinder und Jugendliche entwürdigen oder sie würdigen.

Udo Baer

1 Ritz, ManuEla; Schwarz, Simbi (2022): Adultismus und kritisches Erwachsensein. Hinter (auf)geschlossenen Türen. Unrast Verlag Münster. S. 15

Die Angst der Flüchtlingseltern

von Udo Baer

Viele geflüchtete Eltern haben Angst um ihre Kinder. Dabei spielen traumatische Erfahrungen vor, während und nach der Flucht eine große Rolle, weil sie jede Angst verstärken. Doch die Angst geht über das Trauma hinaus: Sie fürchten, dass ihre Kinder so werden wie die deutschen oder anderen europäischen Kinder, freizügig, ohne den traditionellen Respekt usw. Besonders bei geflüchteten Menschen aus arabischen Ländern – aber nicht nur – ist diese Angst groß.

Wenn wir als Lehrkräfte, Erzieher*innen oder andere Begleitpersonen das Vertrauen dieser Eltern gewinnen, hören wir von diesen Ängsten. Welche Haltung können wir einnehmen? Was können wir sagen?

Zwei Aspekte sind vor allem wichtig. Der erste besteht darin, dass wir offen und ehrlich vertreten, dass die Kinder sich anders entwickeln werden, als wären sie in Syrien, Afghanistan oder anderen Ländern geblieben. Die Umgebung, die neue Kultur, all das färbt an und beeinflusst. Das können die Eltern nicht aufhalten. Ihre Kinder werden von der alten Kultur beeinflusst UND von der neuen. Das gilt auch für die Eltern, wobei bei ihnen die traditionellen Beharrungskräfte stärker sind als bei den jungen Menschen.

Und zweitens sollten wir in den Vordergrund stellen, was Eltern tun können, um ihre Kinder nicht zu „verlieren“: Für eine gute Verbindung mit den Kindern sorgen. Ihnen zuhören, Interesse zeigen, auch von sich erzählen. Ohne erhobenen Zeigefinger, von den eigenen Erfahrungen und den eigenen Werten. Nicht im Sinne von: „Du musst“, sondern „Mir ist wichtig, dass ... Ich möchte, dass du das ernst nimmst und dann deine Entscheidung triffst und deine Werte vertrittst.“

Die Flucht in eine andere Kultur verunsichert, auch in der Erziehung.

Eine moderne Seuche geht um: “Kinder nach Hause schicken”

von Udo Baer

Fachkräfte in Kitas und insbesondere in Schulen reagieren in schwierigen Situationen gegenüber Kindern, mit denen sie nicht "fertig werden", oft mit dem Dreiklang von Strafe, Kontrolle und Wegschicken. Insbesondere letzteres ist nach meinem Eindruck zu einer Welle geworden, die sich seuchenartig immer mehr ausbreitet. Ein Kind, das stört und das nicht passt, wird nach Hause geschickt, meist aus dem Anlass eines herausfordernden Verhaltens, am häufigsten Konflikte und aggressive Handlungen.

Wir vertreten die Meinung: Ein Kind nach Hause zu schicken, hilft niemandem. Vor allem nicht dem Kind. Das Kind wird beschämt und bekommt die Botschaft: du bist nicht tragbar, du bist nicht aushaltbar – und es ändert sich nichts, gar nichts. Würden Sie in Ihrer Partnerschaft bei Konflikten die andere Person einfach wegschicken? Was würde das ändern? Gar nichts. Kinder nach Hause zu schicken ist ein Ausdruck von Ignoranz. Was wird ignoriert? Die Quellen und die Rahmenbedingungen verletzenden Verhaltens! Wichtig sind die Fragen: Warum gibt es Konflikte? Warum ist ein Konflikt entstanden? Warum ist herausforderndes Verhalten aufgetreten? In welcher Form? Was braucht das Kind? Was brauchen die anderen Kinder? Was brauchen die pädagogischen Fachkräfte? Wie kann man das Problem lösen? Wie kann man eine Perspektive schaffen, dass sich dieses Verhalten nicht wiederholt? All das sind Fragen die dadurch, dass ein Kind nach Hause geschickt wird, weder gestellt noch die Suche nach Antworten schlicht und einfach übergangen wird. Und damit werden Möglichkeiten negiert, etwas zu verändern, und damit wird auch der pädagogische Auftrag ignoriert!

Wenn ich von Fachkräften höre, dass Kinder nach Hause geschickt wurden, frage ich meist: Was war der Anlass? Oft begegne ich einer Angst vor Aggressivität, ja, fast einer Phobie. Da werden harmlose Rangeleien zu aggressiven Aktionen hochstilisiert. Da werden zickenhafte Konflikte zwischen Mädchen zu massiven Streitigkeiten oder Widerworte beziehungsweise Widersprüche zu dem, was Lehrkräfte sagen, zu herausforderndem Verhalten. Wenn jede Aggressivität schon so herausfordert, dass sie als herausforderndes Verhalten eingestuft werden und die pädagogischen Fachkräfte davor kapitulieren, indem sie die Kinder entfernen, dann ist das auch ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Lehrende brauchen nicht nur Wissen, wie welches Wissen vermittelt wird. Sie sind tätig in Einrichtungen, die auch emotionale und soziale Kompetenz vermitteln sollen. Auch das ist ihr Auftrag. Und sie sollten sich damit auseinandersetzen, wenn sie selber aggressiv sind, wenn sie sich ärgern oder wütend sind, und in welcher Form sie solche Gefühle austragen. Sie brauchen Unterstützung und Wege, mit Konflikten umzugehen und auch darin, Vorbild zu sein, wie Konflikte gelöst werden können.

Wenn Kinder nach Hause geschickt werden, wird die Situation in Kita oder Schule vielleicht für den Moment entschärft. Doch was passiert dann mit den Kindern? Ich habe von Kindern gehört, dass sie, wenn sie nach Hause geschickt worden sind, erst mal eine Ohrfeige bekommen haben. Es wurde unterstellt, dass sie etwas Schlimmes gemacht hätten und darauf wurde mit Gewalt reagiert, was wiederum ein Vorbild ist für die Kinder, weiter mit Aggressivität und Gewalt auf Irritationen und Probleme zu reagieren. Andere Kinder erzählten, dass es ihren Eltern egal ist, ob sie in der Schule sind oder nicht. Die wurden ignoriert und wir wissen: Wenn Kinder ins Leere gehen, kann das aggressiv machen. Denn ins Leere zu gehen und ignoriert zu werden ist nicht aushaltbar. In wieder anderen Situationen reagieren Eltern oder Elternteile mit Hilflosigkeit. Hier trifft dann die Hilflosigkeit der Eltern auf die Hilflosigkeit der Pädagog*innen und oft auch auf die Hilflosigkeit der Kinder und Jugendlichen.

Hilflosigkeit ist ein Schrei nach Hilfe, nach Unterstützung. In vielen Ausbildungen wurden keine pädagogischen Kompetenzen vermittelt, mit herausforderndem Verhalten umzugehen. Also bedarf es hier Fortbildung, Supervision, gegenseitige Unterstützung, Teamarbeit mit Schulsozialarbeiter*innen und ähnliches mehr. Auch die Frage ist hilfreich: Was hätten Sie als Kind gebraucht, wenn Sie selbst ärgerlich, wütend, zornig waren? Es ist wichtig, Kinder nicht wegzuschicken, sondern sich mit ihnen zu beschäftigen, mit ihnen zu sprechen, sie zu fragen, was los ist, was sie beschäftigt, was sie umtreibt, was bei ihnen zu viel ist und was zu kurz kommt und so weiter. Es ist notwendig, gemeinsam mit ihnen nach Veränderungsmöglichkeiten zu suchen. Und auch notwendig ist es, ein klares Gegenüber zu sein und die Verantwortung zu übernehmen, was geht und was nicht geht. In der Schule oder in der Kita oder wo auch immer, im Jugendzentrum, auf dem Spielplatz und anderswo. Kinder brauchen Gegenüber, also Erwachsene, die sich mit ihnen reiben, die für etwas stehen. Und das können Kinder akzeptieren, auch wenn sie murren und damit nicht immer zufrieden sind. Kinder einfach wegzuschicken bedeutet, selbst aus der Verantwortung zu gehen und keine Verantwortung für würdigendes Verhalten zu übernehmen.

Wir appellieren an die Kollegien und die einzelnen pädagogischen Fachkräfte, sich zu überlegen, welche Alternative es für sie, ihre Einrichtungen, für ihre Person dazu geben kann, Kinder nicht einfach nur nach Hause zu schicken. Welche Möglichkeiten sehen Sie in der Auseinandersetzung mit den Kindern, Wege der Veränderung zu beschreiten? Diese Frage wird nicht einfach zu beantworten sein, aber es gibt solche Wege, es gibt solche Möglichkeiten. Diese Frage muss und kann beantwortet werden. Die wichtigste Antwort ist: mit den Kindern nicht aus der Beziehung zu gehen, sondern i n Beziehung. Mit ihnen zu reden, ihnen Ihre Meinung sagen, zu streiten, zu fragen und zu hinterfragen. Ihre Hilflosigkeit wahrzunehmen und auch die eigene Hilflosigkeit, wenn sie denn da ist, zu akzeptieren. Gemeinsam nach Lösungen, nach Wegen der Veränderung zu suchen.

Mit Kindern über den Krieg reden

von Udo Baer

„Der Anlass, dieses Buch zu verfassen, war die große Verunsicherung vieler Eltern und pädagogischer Fachkräfte, wie sie mit Kindern und Jugendlichen über den Ukraine-Krieg sprechen könnten. Viele Erwachsene waren und sind durch den Krieg selbst verunsichert und ängstlich und sie hören die ausgesprochenen und die unausgesprochenen Fragen der Kinder und Jugendlichen. In vielen Vorträgen und Diskussionen habe ich mit Eltern und Großeltern, mit Erzieherinnen und Erziehern in Kitas und Lehrerinnen und Lehrern in Schulen gesprochen und versucht, sie zu unterstützen. Diese Erfahrungen sind der Hintergrund dieses Buches.

Die Verunsicherung war auch deshalb so groß, weil der Ukraine-Krieg zusätzliche Belastungen für Kinder und Jugendliche hervorrief. Er begann nach zwei Jahren Pandemie, die schon viele soziale und seelische Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche und ihre Familien bewirkt hatte. Andere Probleme und Bedrohungen wie die Klimakatastrophe kamen und kommen hinzu und beschäftigen die Menschen, junge wie alte. Die Folgen des Kriegs in der Ukraine auf hier lebende Menschen sind vielleicht deshalb so intensiv. Sie sind nachhaltig und werden bei vielen Kindern und Jugendlichen anhalten und nicht mit dem Ende des Krieges aufhören. Wie mit Kindern über Krieg geredet werden kann, wird eine Herausforderung bleiben, auch für die nächsten Monate und Jahre.

Hinzu kommt, dass es über die Ukraine hinaus leider immer wieder auch andere Kriegsereignisse gibt und bedauerlicherweise geben wird. Dieses Buch habe ich während des Ukraine-Kriegs geschrieben. Deshalb beziehe ich mich in den Beispielen auf dieses Kriegsgeschehen, gehe aber auch darüber hinaus. Ich möchte eine praxisnahe Hilfestellung geben, wie mit Kindern über Krieg geredet werden kann, jetzt und in der Zukunft, und ich möchte Möglichkeiten aufzeigen, über das Reden hinaus die Gefühle der Kinder und Jugendlichen ernst zu nehmen und zu unterstützen.

Über den Krieg zu reden, ist schwierig. Die meisten Kinder haben keine Kriegserfahrungen und keine Vorstellungen von Krieg. Selbst wenn die älteren Kinder Kriegs-ähnliche Kämpfe in Filmen oder Computerspielen mitbekommen haben, wissen sie doch, dass das Filme und Spiele sind und nicht die Wirklichkeit. Wenn die kleineren Bilder des Krieges und der Kriegsfolgen sehen, erschrecken sie oft und es macht ihnen Angst. Auch für die älteren können die hervorgerufenen Gefühle massiv sein. Krieg ist ihnen also fern und nahe zugleich. Das bedarf besonderer Würdigung, zumal auch wir Erwachsenen in unseren Gefühlen betroffen sind. Wir dürfen die Kinder mit den seelischen Kriegsfolgen nicht allein lassen, ganz gleich, in welcher Funktion und in welchen Orten wir sie begleiten: im Familienalltag, in der Kita, in der Schule, in der Jugendhilfe

Über Krieg mit Kindern und Jugendlichen zu reden, geht über den Austausch von Worten hinaus. Wichtig sind mit vor allem vier Aspekte:

Erstens sind immer, wenn es um Kriege geht, auch Gefühle beteiligt. Angst und Zorn, Hilflosigkeit und Trauer und viele andere mehr. Deshalb werde ich, bevor ich Gesprächsformen und -settings beschreibe, auf die Gefühle eingehen, die im Reden über Krieg und Frieden mit Kindern und Jugendlichen besondere Bedeutung haben. Reden beschränkt sich nicht auf den Austausch von Worten, es ist auch eine Begegnung der Herzen.

Zweitens verschieben sich Schwerpunkte und Interessen. Am Anfang des Ukraine-Krieges standen Fragen im Vordergrund wie: Was ist Krieg? Warum gibt es Krieg? usw. In dem Maße, wie immer mehr Menschen aus der Ukraine flüchteten, in der Mehrzahl Kinder, verschob sich das Interesse zu Fragen der Flucht und der Flüchtlingshilfe. Ich versuche, auf möglichst viele der unterschiedlichen Aspekte einzugehen und Anregungen zum Umgang damit zu geben.

Drittens werden viele Menschen, Erwachsene wie Kinder, durch Kriege und Kriegsfolgen traumatisiert. Kriegs-traumatisierte Kinder aus Syrien oder Afghanistan begegnen traumatisierten Kindern aus der Ukraine und sie treffen auf traumatisierte und nicht-traumatisierte Kinder aus München oder Osnabrück. Manche Kinder können durch Bilder und Erzählungen von Kriegserfahrungen wieder traumatisiert werden. Deshalb werde ich immer wieder auch darauf eingehen, wie traumatische Erfahrungen und Re-Traumatisierungen bei Kindern zu erkennen sind und wie Erwachsene damit umgehen können und sollten.

Viertens geht es nicht nur um Kinder, wenn wir mit ihnen über Krieg und Kriegsfolgen reden. Auch wir Erwachsene sind beteiligt, nicht nur mit unserem Wissen, sondern auch mit unserem Herzen, mit unseren Unsicherheiten, Ängsten und anderen Gefühlen. Darauf gehe ich ein.

Das Buch richtet sich an interessierte Eltern und an alle Fachkräfte, die Kinder begleiten, ob in Schule oder Kita, Jugendhilfe oder Sozialarbeit oder andere Bereiche. Alle Namen wurden anonymisiert.“

Udo Baer

Buch von Udo Baer: Mit Kindern über Krieg reden. Este Hilfe für schwierige Gespräche. Klett-Cotta 2022.

Sachensucher

Ein Stärkungsprojekt für Schulklassen und andere Gruppen

von Udo Baer

Pippi Langstrumpf redet mit ihren Freunden Thomas und Anika:

„Was wollen wir jetzt machen?“

„Was ihr machen wollt, weiß ich nicht. Aber ich selbst werde nicht auf der faulen Haut liegen, ich bin nämlich ein Sachensucher, da hat man niemals eine freie Stunde.“

„Was hast du gesagt, bist du?“

„Ein Sachensucher.“

„Was ist das?“

„Jemand, der Sachen findet. Was soll es anderes sein. Die ganze Welt ist voller Sachen, da ist es doch notwendig, dass jemand sie findet. Das tun eben die Sachensucher.“

„Was sind das denn für Sachen?“

„Ach, wisst ihr, alles Mögliche. Goldklumpen und Federn und tote Mäuse und Schrauben und all so was. Etwas findet man immer. Am besten wir fangen auf der Straße an zu suchen, da findet man immer die besten Sachen.“ (...)

„Darf man wirklich alles nehmen, was man findet?“

„Ja, alles, was auf der Erde liegt.“

Astrid Lindgren (1986): Pippi Langstrumpf. Hamburg. S. 29


Kinder (ab 6 Jahren) können zu Sachensuchern werden und zu zweit oder in Gruppen über Fußwege, Wanderwege, den Strand, Trampelpfade ... gehen. Alle haben Tüten dabei und sammeln, was sie finden. Sie selbst entscheiden, was sie mitnehmen. Dabei machen sie sinnliche und nicht virtuelle Erfahrungen.

Auch als Vorbereitung für diese Einheit können die Kinder aufgefordert werden, Fundstücke zu sammeln und mitzubringen.

Die Fundstücke werden in der Gruppe ausgebreitet, angefasst und besichtigt. Man kann sie nun

- bemalen

- detektivisch überlegen, wofür sie mal gebraucht wurden

- sie an einer Schnur aufhängen

- sie so aneinander kleben und bemalen, dass daraus ein Objekt wird, zum Beispiel ein Roboter oder eine Unsinnmaschine oder ...

Eine schöne Möglichkeit der Weiterarbeit besteht darin, ein Sachenmuseum zu bauen. Dazu produzieren die Kinder zuerst viele Schachteln, für jedes Kind zumindest eine. Das geht einfach:

„Nimm ein Blatt Papier. DIN A4 oder größer. Knicke an allen vier Seiten je einen Streifen von zwei bis drei Zentimeter Tiefe ab. An jeder Ecke hast du nun ein Viereck. Schneide es an einer Seite ein und klebe die hochgeklappten Streifen damit zusammen. Nun hast du eine Schachtel.“ (Filmische Anleitung im Videolehrgang „Therapie und Papier“ auf www.semnos.de)

Die Kinder können ihre Schachteln auf farbigen Papieren gestalten oder die Schachteln nach der Fertigstellung bemalen.

Die Schachteln werden nun in einem Schrank oder auf einem Tisch oder einer Fußbodenecke nebeneinander gestellt. In jede Schachtel kommt ein Fundstück eines Kindes. Es können auch mehrere Fundstücke gemeinsam in eine Schachtel gelegt werden, z. B. Knöpfe oder Muscheln.

Andere Kinder können das Museum besichtigen ...

(Weitere Anregungen zur kreativen Arbeit mit Fundstücken finden Sie in dem Buch von Petra Kathke: Sinn und Eigensinn des Materials. Projekte – Anregungen – Aktionen. Band 1)

Schatzsuche: eigene Kindheitserfahrungen nutzen

Alle Menschen, die Kinder erziehen, ganz gleich, ob Sie Eltern sind oder Fachkräfte, haben eine Ausbildung hinter sich: Sie waren selbst Kind und Jugendliche. Diese Erfahrungen, die jeder Erwachsene als Kind oder Jugendliche gemacht hat, werden zu wenig gesehen und erst recht nicht gewürdigt. Sie sind ein geheimer Schatz. Wie kann dieser Schatz gehoben und genutzt werden? Indem wir Erwachsenen uns Fragen stellen und mit unserer Kindheit beschäftigen. Ich werde die wichtigsten Fragen, die mir begegnet sind, im Folgenden vorstellen.

Was hat mich unterstützt in meiner Kindheit? Welche Menschen fallen mir dabei ein, welche Taten, welche Situationen?

Vielleicht fällt Ihnen der Opa ein, der einfach lieb war, oder die Mutter, die geduldig mit Ihnen Hausaufgaben gemacht hat, vielleicht auch die Großmutter, bei der es zwar strenge Regeln gab, aber bei der Sie immer wussten, woran Sie sind.

Was hat Ihnen geschadet?

Vielleicht sind Sie geschlagen worden oder manchmal allein gelassen worden. Möglicherweise gab es Atmosphären in Ihrer Familie oder der Umgebung, die für Sie giftig waren. Eventuell haben Sie sich viel gelangweilt oder fühlten sich allein. Oder es gab Ortswechsel, Umzüge, Verlust von nahestehenden Personen, die Sie nicht betrauern konnten.

Wenn Sie diesen beiden Fragen nachgehen, erhalten Sie sicherlich schon Hinweise dafür, was Sie mit den Kindern, die Sie begleiten, vermeiden sollten und was für die Kinder förderlich sein kann. Dann können Sie sich weiter fragen:

Wie war es im Kindergarten oder in der Kindergartenzeit? Wer war für Sie wichtig? Was haben Sie dort gern gemacht?

Oder:

Von wem haben Sie in der Schule gern gelernt? Wen haben Sie als Autorität akzeptiert? Was hat Sie unterstützt?

Auch hier werden Sie etliche Hinweise erhalten, die Sie in Ihrer Elternzeit oder Ihrer anderen pädagogischen oder erzieherischen Tätigkeit unterstützend einbringen können. Wenn Sie Probleme mit einem konkreten Kind haben, dann überlegen Sie sich, wie es Ihnen erging, als Sie so alt waren, wie das Kind jetzt ist.

Wie war ich damals drauf? Was habe ich gedacht, gefühlt, wie habe ich mich verhalten?

Eine Mutter erzählt:

„Mein Sohn ist 12 Jahre alt und ich komme nicht mehr richtig an ihn heran. Er ist nur noch bockig, wenn ich ihn was frage oder mit ihm etwas bereden will. Dann habe ich mich gefragt, wie ich denn mit 12 war. Zu meinem Erschrecken fiel mir ein, dass ich genauso bockig war. Ich wollte oft nur einfach in Ruhe gelassen werden und selber bestimmen können, worüber ich rede und mit wem. Ich habe das dann meinem Sohn gesagt, dass es mir ähnlich so ging wie ihm, dass ihn auch gern mehr in Ruhe lassen möchte und er jederzeit aber mit mir reden kann, wenn er das möchte.

Und dann fiel mir ein, was ich gerne damals mit meiner Mutter gemacht habe. Ich lernte von ihr nähen. Das war toll. Da brauchten wir nicht reden. Manchmal gab es da ganz gute Gespräche. Am wichtigsten war dabei, was wir gemeinsam gemacht haben. Und das habe ich dann auch mit meinem Sohn probiert. Der stand natürlich nicht aufs Nähen, aber er war total neugierig auf Malen am PC, was ich in meiner jetzigen Arbeit lernen musste und nun gerne mache.“

Ein Lehrer erzählt aus seiner eigenen Schulzeit:

„Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, fällt mir viel ein. Wir hatten einen Religionslehrer. Der war gut. Er hat mich gesehen und mich gefördert. Er hat meine Interessen gesehen und mir Bücher empfohlen. Von dem habe ich viel gelernt, obwohl ich mit der Religion selber nicht viel am Hut hatte. Was mich immer auf die Palme gebracht hat, waren Ungerechtigkeiten, wenn Lehrer einfach ihren Stiefel durchzogen und ungerecht waren oder einige Schüler bevorzugt haben und andere wieder bestraft haben. Das ging gar nicht. Da habe ich mich ganz unwohl gefühlt und konnte manchmal nachts vor Verwirrung nicht schlafen. Seit mir das und noch mehr bewusst geworden ist, versuche ich mehr zu schauen, was die Stärken der einzelnen Schüler und Schülerinnen sind. Wir haben auch lange darüber geredet, wie wir mit Ungerechtigkeiten umgehen, die immer mal passieren könnten, welche Regeln sinnvoll sind, damit jeder gerecht behandelt wird, die Schüler und Schülerinnen, aber auch wir Lehrer und Lehrerinnen. Das hat zwar nicht alle Probleme gelöst, aber die Kinder haben sich ernst genommen gefühlt und das war auch ernst gemeint.“

Wichtig ist der Blick zurück, um besser den Blick nach vorne leisten zu können und besser nach vorne schauen zu können. In den Erfahrungen als Kind, die wir als Erwachsene gemacht haben, stecken Schätze, die es verdienen, geborgen zu werden.

Verbindungsobjekte

Der US-amerikanische Trauma-Therapeut und Psychoanalytiker Vamik Volkan führte in die Arbeit mit traumatisierten geflüchteten Menschen den Begriff der „Verbindungsobjekte“ ein: Verbindungsobjekte „verbinden die Flüchtenden mit dem, was in der Vergangenheit war. Du kannst nicht in ein anderes Land gehen, ohne eine irgendwie geartete Verbindung zum vorherigen Leben mitzubringen, sonst wärest du ein Niemand. Man braucht Verbindungsobjekte, das kann ein Geruch sein, ein Foto, ein Lied, ein Ding.“1 Solchen Verbindungsobjekten begegnen wir in der Begleitung traumatisierter Menschen aus der Ukraine und anderen Ländern. Sind sie nicht vorhanden oder gehen sie verloren, erleben die Menschen dies als katastrophal. Dann ist nur noch Leere da, aber nichts anderes mehr, an dem man sich wenigstens ein bisschen festhalten kann. Und wenn gar nichts da ist, kann man auch nicht trauern, kann man nicht von der Heimat und von den schrecklichen Erfahrungen loslassen.

Ein Kind aus der Ukraine erzählte, dass die Familie auf der Flucht die Katze verloren hätten. Das Kind war dadurch am Boden zerstört. Das war schlimmer als die Flucht und alles andere. Ein Mädchen hatte seine Puppe verloren. Auch dies erlebte sie als Katastrophe. Sie erstarrte.

Wenn Kinder und Erwachsene, die geflüchtet sind, über keine Verbindungsobjekte verfügen, ist es wichtig, in der Therapie nach ihnen zu suchen, ja manchmal sogar einige zu schaffen. Es kann ein Stück Schokolade aus der Ukraine oder einem anderen Heimatland sein; ein dreckiges zerfleddertes Buch, das aus den Ruinen des zusammengebrochenen Hauses nach dem Erdbeben in der Türkei gerettet wurde; ein Bild, das ein Kind über die Heimat malt, die Freunde und Freundinnen, die es zurücklassen musste; ein Lied der Heimat, das gemeinsam gesungen wird; ein Essen, das so gekocht und gewürzt wird wie „damals“ in Syrien oder Afghanistan.

Nach Verbindungsobjekten zu suchen oder sie gestalterisch und kreativ zu schaffen, sollte ein Herzstück in der Begleitung traumatisierter geflüchteter Kinder und Erwachsener sein. In der Therapie ebenso wie in der stärkenden pädagogischen oder sozialpädagogischen Begleitung.

Ich nutze und empfehle sie auch in der Unterstützung von Menschen, vor allem von Kindern, die eine Menschen verloren haben, durch Tod oder Trennung oder auf andere Weise. Zu beobachten ist, dass nur sehr schwer getrauert werden kann, wenn es gar keine Verbindung gibt. Das wird die fehlende Person als „abgeschnitten“ erlebt. Offenbar braucht es eine wie auch immer geartete Verbindung, um loslassen und trauern zu können.

Eine solche Verbindung („Verbindungsobjekt“) kann in Gegenständen unterschiedlicher Art bestehen, auch in Gerüchen, Klängen und anderem mehr. Nicht die Art des Objektes ist entscheidend, sondern die Bedeutung, die dem Symbol zugewiesen wird. Ein Beispiel:

Ich begleite eine Frau mit zwei Kindern. Sie sind aus der Ukraine nach Berlin geflohen. Die jüngere Tochter ist herzkrank und es gab in der Ukraine nach der russischen Aggression für sie plötzlich keine Medikamente mehr. Deshalb die schnelle Flucht. Der Vater der Kinder ist in der Armee in der Ukraine. Jeden Abend versuchen sie, ihn zu erreichen, um zu erfahren, ob er noch lebt und gesund ist. Ein Ausnahmezustand, der nun schon über ein Jahr dauert und alle zermürbt.

Den täglichen Druck, die täglichen Sorgen und Ängste kann ich nicht nehmen, nicht einmal verringern. Ich suche mit der Familie nach einem Verbindungsobjekt zur Heimat und zum Vater. Ihnen fällt nichts ein. Sie haben bei der Flucht nur Kleidung mitnehmen können, es musste so schnell gehen. Ich suche weiter nach einem Verbindungssymbol und frage die Tochter: „Was fällt dir ein, wenn du an Papa denkst?“ Sie strahlt und erzählt, dass sie beide immer so viel gelacht haben, wenn er sie hochgeworfen hat. Und dass sie so oft gemeinsam ein Lied gesungen haben. Sie singt es vor, ihr Bruder und die Mutter stimmen ein. Wir nehmen es auf dem Handy auf. Oft hören sie es, oft schicken sie es an den Vater. Er singt auf Whatsapp mit und sie nehmen es wieder auf. Das Lied wird zur Verbindungsmelodie, zum Symbol der Verbundenheit.

1 Interview taz am Wochenende 12.12.2015. Gespräch mit Vamik Volkan: „Atmen, wo jemand Feuer legt“

Dr. Vier Quellen von Agressivität

Einige Hinweise und Hilfestellungen zum Umgang mit Wut, Zorn und Gewalttätigkeit in der Schule

von Udo Baer

Mirko ist neun Jahre alt. Das Einzige, worauf er stolz ist, ist seine neue Spielkonsole und die Kraft seiner Muskeln. Gern sieht er Videos mit großen Kämpfern, die problemlos ihre Gegner niedermachen. Mirko ist ein „Klopper“, wie sie in der Schule sagen. Es vergeht kaum ein Tag ohne Rauferei. Er kann sich laut Lehrerin nicht in die Klasse einfügen, auch aus dem Fußballverein ist er herausgeflogen, weil er den Anweisungen des Jugendleiters nicht folgte. „Ab und zu“ wird er von seinem Vater geschlagen, der meint, damit „das Recht des Stärkeren“ zu vertreten. Er ist Lastwagenfahrer, viel unterwegs und wenn zu Hause, dann müde und mit Bierflasche, ständig auf jeden und alles schimpfend. Seine Erziehungsmaxime gegenüber Mirko lautet: „Mir ist egal was du wirst, Hauptsache kein Schwächling.“

Die Mutter scheint irgendwie abwesend zu sein. Mirko weiß nicht, was die Mutter macht, außer das „die sich irgendwie um andere kümmert“. Sie ist in der mobilen Pflege beschäftigt und zählt wohl eher zu den „Schwachen“. Mirko ist die meiste Zeit des Tages über allein zu Hause oder streunt mit den Kumpels herum. Zu Hause spielt er Computerspiele oder schaut Videos seines Vaters. Auf den lässt er nichts kommen, auch wenn er heimlich den Tag herbeisehnt, an dem er selbst so stark sein wird, dass er sich von ihm keine Schläge mehr bieten lassen muss …

Was fehlt Mirko? Mirko ist viel zu früh und viel zu viel allein. Mirko fehlt soziale Geborgenheit und damit ein wesentliches Element des Bodens, auf dem er mit aggressiven Gefühlen angemessen umgehen könnte. Mit Mirko nur daran zu arbeiten, dass er seine aggressiven Impulse besser „kontrolliert“, wie es die zu Hilfe gerufene Psychologin versuchte, scheiterte. Ein Feuer ist schwer zu kontrollieren, zumindest nicht, wenn es immer wieder neu genährt wird. Und genau dies geschieht mit der Aggressivität Mirkos. Sie wird erhalten durch die kontinuierlich neue Nahrung aus der inneren Haltlosigkeit. Mirko sagt selbst: „Wenn ich versuche, mich zusammenzunehmen, dann geht das nach zwei Tagen kaputt, dann bin ich so weg, dass ich irgendjemandem eine runterhauen muss, damit ich mich wieder mitkriege.“

Aggressivität ist nicht gleich Aggressivität, sondern entspringt verschiedenen Quellen. Wenn die jeweilige Quelle identifiziert ist, können daraus Konsequenzen für den Umgang mit dem Kind oder Jugendlichen gezogen werden. Die Quelle von Mirkos Aggressivität ist die emotionale Verwahrlosung, die Haltlosigkeit. Also braucht Mirko so viel Halt, wie es nur irgendwie geht. Sicher kann die Schule nur einen Teil dazu beitragen und die Mängel des Elternhauses nicht ersetzen. Aber diesen Teil muss sie beisteuern. Psychologische Untersuchungen haben ergeben, dass viele aggressive Kinder „ins Leere laufen“ und Eltern mit einen „Laisser-faire-Erziehungsstil“ bevorzugen. Diese Kinder brauchen klare und gerechte Gegenüber und sinnvolle Aufgaben, die sie bewältigen können. Damit verschwindet nicht ihr Aggressivitätspotenzial von einem Tag zum anderen, aber die Quelle, aus der es sich speist, kann allmählich austrocknen.

Eine andere häufig anzutreffende Quelle ist die dauerhaft hohe Erregung vieler Kinder. Dieses Erregungsniveau führt zu einer Hochspannung, die sich bei Belastungen in aggressiven Äußerungen und Handlungen entlädt. Viele Erwachsene werden es auch kennen, dass sie unter hoher angespannter Erregung leicht „explodieren“. Diese Kinder befinden sich nicht gelegentlich in solchen Erregungszuständen, sondern chronisch.

Oft wird das Verhalten der Kinder als „ADHS“ diagnostiziert, was allerdings noch nichts darüber aussagt, was bei dem jeweiligen Kind zu der hohen Erregung und Spannung geführt hat. Für eine Untersuchung über die „Innenwelten“ dieser Kinder hat die Lehrerin und Schul-Therapeutin Waltraut Barnowski-Geiser Dutzende von ihnen befragt. Bei allen war großer Kummer feststellbar, den sie nicht teilen und „loswerden“ konnten, Kummer über die Trennung der Eltern oder den Tod der Oma, Kummer über fehlende Liebe oder den Wegzug aus der alten Heimat, Kummer über zu wenig Achtung, ja oft Verachtung, oder das Nicht-zurecht-Kommen mit dem eigenen Anderssein. So vielfältig der Kummer war, aus dem sich die Erregung speiste, so wichtig waren und sind Möglichkeiten, die Erregung abzureagieren. Erwachsene können Musik machen oder ein Beet im Garten umgraben. In der Schule sind die Möglichkeiten beschränkter. Winston Churchill bat seinen Schuldirektor um die Erlaubnis, in den Pausen das Schulgelände verlassen zu dürfen, um einmal um das Gelände zu laufen. Er halte den Unterricht sonst nicht aus und könne sich vor Anspannung nicht konzentrieren. Der Direktor erteilte die Erlaubnis ... Gute Erfahrungen gibt es, wenn Kinder, die merken, kurz vor aggressiven Attacken zu stehen, die Erlaubnis bekommen, zeitweilig aus dem Unterricht „beiseite zu treten“. Mit einem Kind wurde vereinbart, dass es für einige Minuten das Klassenzimmer verlassen darf und zu einer Sitzecke im Flur gehen kann. Für andere gibt es die Möglichkeit, in besondere Teile des Klassenzimmers zu gehen und zu malen oder anderes zu tun. Manchmal reicht es schon, einem Kind zu erlauben, während es zuhört, gleichzeitig zu kritzeln oder malen, und das nicht als Desinteresse zu interpretieren. Alles, was die innere Erregung des Kindes reduziert oder hilft, sie unaggressiv „auslaufen“ zu lassen, ist sinnvoll. Manche Lehrerinnen und Lehrer scheuen davor zurück, um den Kindern keine „Sonderstellung“ einzuräumen. Doch diese Sonderstellung haben sie schon durch ihr aggressives Verhalten. Wenn anderes nicht hilft, sind solche Vereinbarungen einen Versuch wert. Sie müssen in der Klasse transparent gehandhabt werden, dann werden sie auch von den Schülerinnen und Schülern akzeptiert.

Ein weiteres Ergebnis der Befragung der sogenannten „ADS/ADHS“-Kinder bestand darin, dass sich alle Kinder und Jugendlichen „nicht richtig“ vorkamen. Sie bewerteten nicht nur konkretes Verhalten als falsch, sondern sich selbst, und zwar in ihrer ganzen Persönlichkeit, als „unaushaltbar“. „Nur ich, ich mache alles falsch, ich mache nur Ärger und dann sind alle sauer“, sagt der 11-jährige Stefan. Und die 13-jährige Melanie ist sich sicher: „Ich bin ein Stück Sch ... Da sind sich alle sicher. Ich auch.“ Ist das Selbstwertgefühl von Kindern erst einmal so weit in den Keller gerutscht, kann leicht jede noch so gut gemeinte Kritik die Selbstabwertung verstärken: „Na klar, wie immer, ich mach ja alles falsch.“ Nichtsdestotrotz muss Kritik trotzdem manchmal sein, wichtiger für diese Kinder sind Komplimente, lobende Äußerungen, wann immer sich die Gelegenheit bietet und etwas lobenswert ist.

Die dritte große Quelle aggressiver Äußerungen von Kindern und Jugendlichen neben der Haltlosigkeit und der hohen Erregung ist die Gefühllosigkeit. Manchmal sind Kinder in einer Art gewalttätig, die Kälte, Rohheit, manchmal Beiläufigkeit ausstrahlt. Es gibt kein Bedauern, keine Scham, keine Irritation. Dieses Gefühl der Gefühllosigkeit ergreift Kinder und Jugendliche in der Regel noch nicht so umfassend wie Erwachsene, kann aber den prägenden Hintergrund aggressiver Handlungen bilden. Die Gefühllosigkeit kann bei Menschen entstehen, wenn sie sich existenziell bedroht und überfordert sehen, z. B. bei chronischen Schlägen, bei sexuellem Missbrauch oder anderen traumatischen Erfahrungen. Dann ist das Gefühl der Gefühllosigkeit ein Schutz, der aber, wenn er chronisch wird, zum Alptraum werden kann. Wenn mit der Fähigkeit zu fühlen auch das Mitgefühl verloren geht oder zumindest so betäubt wird, dass es keine Wirkung hat, werden aggressive Impulse zu roher Gewalt.

Hier können Lehrerinnen und Lehrer nur tätig werden, indem sie psychologische und therapeutische Hilfe organisieren und die Opfer schützen. Nur im therapeutischen Rahmen kann es gelingen, die vergrabenen Gefühl wiederzubeleben, denn mit diesem Prozess wird auch der Schmerz lebendig, der früher nicht auszuhalten war und in die Gefühllosigkeit getrieben hat.

Unter der Aggressivität liegt somit dauerhaft ein anderes Gefühl, die Gefühllosigkeit. Auch andere Gefühle können sich in und hinter der Aggressivität verbergen, oft situationsgebunden und zeitweilig. Sie zu identifizieren, erschließt die vierte Quelle aggressiver Gefühle, der wir in der Schule häufig begegnen.

Dafür, dass unter einem aggressiven Gefühl bzw. dessen Ausdruck ein anderes Gefühl liegt, entlehnen wir aus den Sprachwissenschaften das Wort „Subtext“. Ein Subtext ist eine Aussage, die unterhalb des offenkundigen Textes verborgen ist.

Subtexte gibt es in allen erdenklichen Variationen. Weit verbreitet, vertraut und bei den Adressaten meistens wenig beliebt sind Aussagen wie: „Nein, du brauchst dich wirklich nicht um mich zu kümmern – du hast ja so viel zu tun“ oder „Ich möchte wirklich keine Geschenke haben“. Deren Subtexte lauten so oder so ähnlich: „Du kümmerst dich zu wenig um mich“ bzw. „Du hast mich schon so oft enttäuscht“ oder „Ich will mich dir nicht verpflichtet fühlen.“ Nicht nur beim gesprochenen oder geschriebenen Wort gibt es Subtexte, auch bei Handlungen und Gefühlen. Der Subtext wutentbrannten Wegrennens beim Abschied-Nehmen z. B. von einem geliebten Menschen ist oft das Gefühl der Verlassenheit, der Leere, der Angst oder der Traurigkeit.

Der Subtext der aggressiven Äußerungen von Kindern und Jugendlichen ist individuell unterschiedlich. Einige Beispiele:

- Achim ist oft beschämt worden. In Situationen, in denen es bedrohlich wird, dass er ausgelacht wird, beginnt er „vorsorglich“ um sich zu schlagen.

- Ruth ist einsam. Die Mutter ist weg und sie hat keine „richtige“ Freundin. Wenn sie es nicht mehr aushält, wird sie „pampig“ und laut.

- Tim wird vom Vater nur beachtet, wenn der wütend wird. Er erhält dann zwar oft Prügel – aber immerhin wird er beachtet. Das versucht er in der Schule auch.

- Immer wenn Suren nicht mehr weiter weiß, überfordert und hilflos ist, beginnt sie zu schreien ...

Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Es macht Mühe, den Subtext der aggressiven Äußerungen jedes einzelnen Kindes zu erkunden, und es ist oft einfacher, als man vorher vermutet. Dieser Weg lohnt sich. Allein auf Wut und Aggression zu reagieren geht in die Leere, wenn dahinter die Angst vor Beschämung oder die Hilflosigkeit steht. Erfolgversprechender ist es, auf den Subtext zu reagieren, aus dem sich die Aggressivität speist. In der Therapie erzählen Kinder und Jugendliche oft, wie wohltuend und wichtig es für sie ist, wenn Lehrerinnen oder Lehrer äußern, dass sie verstehen, was in ihnen vorgeht. Sie selbst können meist darauf unmittelbar bzw. in Worten nicht reagieren. Aber es kommt an und wirkt. Sätze wie „Ich werde mich bemühen, darauf zu achten, dass du nicht ausgelacht wirst“, „Auslachen ist in der Klasse verboten“ oder „Wenn man nicht mehr weiter weiß, kann man schon mal aus der Haut fahren – das kenne ich“ zeigen Verständnis. Von ihnen berichten die Kinder noch Jahre später.

Viele Lehrerinnen und Lehrer bemühen sich, auf aggressive Äußerungen in der Schule nicht nur disziplinarisch zu reagieren. Auch wenn im Schulalltag die Möglichkeiten oft nur allzu beschränkt sind, ist jeder Versuch wertvoll. Die Unterscheidung der verschiedenen Quellen aggressiver Äußerungen kann eine Hilfestellung in diesem Bemühen sein.

Wenigstens gesehen werden

von Dr. Udo Baer

Jonas wirkt in der Schule oft müde. Der zwölfjährige Junge ist stiller als früher. Die Lehrerin fragt ihn, ob etwas los sei. Er zuckt nur mit den Schultern und sagt: „Nichts.“ Zum Elternsprechtag kam immer die Mutter, diesmal niemand. Die Lehrerin ist besorgt. Sie ruft die Eltern an und fragt nach der Mutter. Jonas ist am Telefon. Er sagt, die Mutter könne gerade nicht und der Vater müsse so viel arbeiten.

Jonas jüngerer Bruder besucht ebenfalls die Schule. Die Lehrerin bittet dessen Klassenlehrer, ihn zu fragen, ob es in der Familie eine Belastung oder einen anderen Vorfall gäbe. Als der Klassenlehrer den jüngeren Bruder fragt, fängt dieser sofort an zu weinen. „Mama ist krank“, sagt er, „vielleicht stirbt sie.“

Die Mutter von Jonas hat Krebs. Sie wird immer schwächer. Jonas kümmert sich um seinen Bruder und um sie. Eine warme Mahlzeit je Tag wird geliefert, die anderen bereitet Jonas zu. Der Vater ist Bauführer und viel und lange unterwegs. Manchmal hilft die Oma. Jonas pflegt seine Mutter, so gut er kann. Er sorgt dafür, dass sie ihre Medikamente nimmt, begleitet sie, wenn sie aufsteht, liest ihr manchmal vor. Er macht das gern – und er ist überfordert. Schularbeiten kann er oft erst am Abend erledigen oder gar nicht.

Wie Jonas geht es vielen Kindern und Jugendlichen. Viel mehr, als bislang bekannt war: 480 000 Kinder zwischen 10 und 19 Jahren sorgen nach einer aktuellen Untersuchung des Bundesgesundheitsministeriums für chronisch kranke Elternteile. Das sind 6% der Kinder und Jugendlichen. In jeder Schulklasse im Schnitt 1,5.

Thomas Gentner hat in seiner Promotion viele dieser Kinder befragt, auch Lehrerinnen und Lehrer. Sein Fazit: Die Pflegetätigkeit dieser Kinder und Jugendlichen ist kaum bekannt. „Für diese Kinder beginnt Unterstützung damit, überhaupt erstmal wahrgenommen zu werden“, sagt er. Zwei Drittel der Kinder, die er befragte, hatten zum Zeitpunkt der Befragung noch nie mit jemandem darüber gesprochen. Dass sich jemand für die Ursachen der Veränderungen in Jonas Verhalten interessiert wie seine Lehrerin, ist die Ausnahme. Die meisten Kinder und Jugendlichen, die pflegen, würden gern mit jemandem darüber sprechen, auch über ihre Einsamkeit und Überforderung. Jonas traut sich nicht, wie manch andere. Als 12Jähriger seine Mutter pflegen – da droht Beschämung und Ausgelacht-Werden von den anderen Jungs. Jonas und die anderen Kinder und Jugendlichen brauchen Ansprechpartner/innen, die sich interessieren, die um die Schwierigkeiten wissen und mit der Angst vor Beschämung umgehen können. Kinder wie Jonas brauchen Würdigung.

Woran können Sie das Vorliegen traumatischer Erfahrungen bei Kindern erkennen?

von Dr. Udo Baer

Viele Erzieher/innen und Lehrer/innen sorgen sich um Kinder, bei denen sie vermuten, dass diese Gewalterfahrungen ausgesetzt waren oder sind. Doch die meisten dieser Kinder verstummen. Sie erzählen nicht oder können nicht erzählen. Also sind wir Erziehende auf andere Anzeichen angewiesen.

Zunächst einmal ist es wichtig, zu betonen, dass es keine verbindlichen Listen von Symptomen gibt oder geben kann, die auf das Vorliegen sexueller oder anderer Gewalterfahrungen hinweisen. Die Auswirkungen jeder Gewalterfahrung sind anders. Jedes Kind ist anders. Es braucht immer ein Gesamtbild, um gegebenenfalls einem Verdacht nachzugehen.

Die häufigste und wichtigste Folge traumatischer Erfahrungen besteht darin, dass Kinder „verstört“ sind. Sie stehen „neben sich“. Sie „fallen aus der Welt“ und aus der Rolle.

Eine traumatisierende Gewalterfahrung ist ein Schock, ist ein Erleben, das über die Bewältigungsfähigkeiten des Kindes hinausgeht. Also gehen Fähigkeiten, die das Kind bereits erworben hat, wieder verloren, also treten verstörende Verhaltensweisen auf. Entwicklungsschritte sind rückgängig gemacht worden.

Zu den häufigsten Symptomen, die auf eine traumatische Erfahrung folgen, gehören:

- Eine sexuelle Gewalterfahrung oder ein anderes traumatisches Ereignis machen Angst. Deswegen treten in der Folge häufig Ängste auf. Sie können lebendig werden ohne einen erkennbaren Anlass oder als Reaktion auf bestimmte konkrete auslösende Erfahrungen (Trigger) entstehen: Berührungen, laute Schritte, Türen knallen, bestimme Gerüche …

- Die meisten Gewalterfahrungen, die Kinder erleben, werden ihnen von Menschen angetan, die ihnen eigentlich nahe sind: Verwandte, Freunde, Nachbarn … Wer von den Menschen, denen man eigentlich vertrauen sollte, Gewalt erfährt, wird misstrauisch, muss misstrauisch werden. Ein massiv gesteigertes Misstrauen kann deshalb ein Indiz für traumatische Erfahrungen sein. Manchmal tritt dieses Misstrauen gegenüber den meisten Menschen kombiniert auf mit einer fast klammernden Hinwendung zu einer einzelnen Person.

- Wie Erwachsene werden auch Kinder nach traumatischen Erfahrungen von „Flashbacks“ gequält. Wie in einem Blitz tauchen Bilder der traumatischen Erfahrung auf und führen zu Ängsten, Schrecken oder Unruhe.

- Manche Kinder zeigen sexualisiertes Verhalten. Sie benutzen sexualisierte Worte oder spielen sexuelle Szenen, nach ohne zu wissen, was damit gemeint ist.

- Eine traumatische Erfahrung beunruhigt. Deswegen ist Unruhe eine häufige Folge. Dies kann auch zu Schlafstörungen führen oder zu plötzlichem Erschrecken im Schlaf.

- Manche Kinder zeigen einen plötzlichen Leistungsabfall und/oder haben Schwierigkeiten, Gelerntes zu behalten. Ihre Gedächtnisfähigkeiten lassen plötzlich nach.

- Selbstverständlich sind blaue Flecken und andere körperliche Folgen eines der möglichen Symptome. Doch auch kontinuierliche Bauch- oder Kopfschmerzen können ein Zeichen sein, dass der Körper ein Leid ausdrückt, für das Kinder keine Worte finden.

- Manchmal spielen Kinder Gewaltszenen nach mit Puppen, mit Hölzern, mit Playmobilfiguren u.a..

Wenn mehrerer solcher Phänomene auftreten und sich vor allem die Kinder verstört wirken und plötzlich „anders“ als zuvor sind, dann ist der Verdacht auf eine traumatische Erfahrung naheliegend.

Was tun: Die fünf Schritte

Wenn Sie als erziehende Person einen Verdacht haben, dass einem Kind ein traumatisches Ereignis zugefügt wurde, dann helfen die folgenden fünf Schritte:

1. Sammeln Sie alle Eindrücke und Beobachtungen, und halten Sie sie schriftlich fest. Sammeln Sie auch Bilder, die das Kind malt, Szenen, die es spielt, Worte, die es sagt. Dokumentieren Sie.

2. Sprechen Sie mit anderen Kollegen/innen Ihrer Einrichtung. Tauschen Sie sich aus. Dokumentieren Sie gemeinsam.

3. Wenn das Kind eine traumatische Erfahrung machen musste, braucht es dringend Stärkung. Warten Sie deshalb nicht ab, bis eine Diagnose vorliegt und therapeutische Hilfe gegeben werden kann. Das Kind braucht Halt und Unterstützung. Hinweise finden Sie zum Beispiel in dem Buch: Baer, Udo: Traumatisierte Kinder sensibel begleiten, Basiswissen und Praxisideen, NiKoLo, Beltz.

4. Erkundigen Sie sich oder die Leitung Ihrer Einrichtung bei den Eltern, ob etwas Besonderes vorgefallen ist. Auch die Trennung der Eltern oder ein Trauerfall in der Familie kann verstörende Verhaltensänderungen hervorrufen.

5. Wenn das verstörende Verhalten innerhalb von zwei bis drei Wochen bestehen bleibt oder gar stärker wird, sollte Hilfe geholt werden. Suchen Sie Hilfe beim Kinderschutzbund, beim Jugendamt, bei Trauma-Beratungsstellen oder ähnlichen Einrichtungen. Kontaktdaten finden Sie im Internet oder bei der Stadtverwaltung.